Von historischen Prüfkulturen lernen – Albrecht Dürers „Meisterportraits“ als Beispiel

Die Abiturprüfungen werden auch dieses Jahr unter Pandemiebedingungen ordnungsgemäß durchgeführt. Selbst wenn dies mehrfache Terminverschiebungen bedingt, scheint die Alternative – ein Aussetzen der Prüfungen undenkbar.

Zur Weitung bzw. Lockerung dieses festgefahrenen Denkkorsetts möchte ich ein Blick in die Kunstgeschichte wagen und eine historische Prüfpraxis vorführen, die es – so denke ich – erlaubt Ableitungen für die Gegenwart vorzunehmen und über positive Äquivalente zu den gängigen Abschlussklausuren nachzudenken.

Mein Fallbeispiel Albrecht Dürer mag dabei auf den ersten Blick ungewöhnlich wirken, denn eigentlich scheint dieser vermeintlich genialische Renaissance-Maler jedwedem Prüfungskontext entrückt. Doch auch die von ihm produzierten Meisterwerke – insbesondere seine Selbstportraits – sind keinesfalls interessenlos im luftleeren Raum entstanden. Wie die aktuelle Dürerforschung zeigt, hat sich der Nürnberger Maler mit deren Erstellung ganz bewusst in eine handwerkliche Prüftradition gestellt, ja geradezu einen Qualitätsdiskurs über Malerei heraus- und eingefordert. Hintergrund war, dass sich Dürer nach seinen Lehr- und Wanderjahren als Maler in Nürnberg etablieren wollte. Doch das Problem war, dass für die Malerei in der Reichstadt als „freier Kunst“ eine verbindliche heute würde man sagen „Ausbildungs- und Prüfungsordnung“ fehlte. Wie konnte man also den reichen Kaufleuten und Patriziern der Stadt, die er als potentielle Kunden ins Visier nahm, seine Meisterschaft demonstrieren? Er brauchte einen Nachweis. Prägend war dabei für ihn sein Elternhaus, namentlich die Goldschmiedewerkstatt seines Vaters. Das Goldschmiedehandwerk galt dabei als das am meisten normierte Kunsthandwerk. Jeder Lehrling hatte in diesem Handwerk am Ende seiner Ausbildung eine Reihe von Probestücken abzuliefern, die bestimmte Gütekriterien entsprechen mussten. Der Kunsthistoriker Thomas Eser nennt dabei – Eigenständigkeit, Hyperqualität und Vielseitigkeit (vgl. Eser 2011).

Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1498; Mischtechnik auf Holz, 52×45 cm. Madrid, Museo del Prado. Quelle: Wikipedia (public domain)

Zur Eigenständigkeit: Auf den ersten Blick scheint dieses Kriterium allen Kritikern von alternativen „open media“ -Prüfungen das Wort zu reden, gilt danach doch eine nicht kontrollierbare Zusammenarbeit oder das Einholen fremder Hilfestellung als Täuschungsversuch. Doch zeigt die als „Konstellationsforschung“ betriebene Kunstwissenschaft, dass Dürer gerade nicht als isolierte genialische Monade zu sehen ist, sondern fest eingebunden war in die „vielfältigen Wechselwirkungen und Einflüsse einer kulturell und ökonomisch höchst vitalen Nachbarschaft.“ (Gulden 2012, S. 38). So unterhielt er etwa rege Korrespondenz mit führenden lokalen Humanisten wie Willibald Pirckheimer oder Condrad Celtis. Letzterer flankierte die Bildwerke Dürers gar mit zahlreichen lobhudelnden Epigrammen.  Heute würde man wohl von hochkulturellen Werbetexten sprechen, die die „Marke“ Dürer zu etablieren verhalfen. D.h. nicht nur Dürers typisches Signet mit dem berühmten AD hat dessen Werke ausgezeichnet, nein es war vor allem auch die publizistische Konstruktion von individueller Außergewöhnlichkeit durch seine Freunde und Weggefährten.

Zur Hyperqualität: Eine besondere Pointe insbesondere des Münchener und Madrider Selbstportraits besteht darin, dass sie, obwohl sie am Anfang seiner Karriere als Bildnismaler mit Ende Zwanzig entstanden sind, qualitativ in seinem eigenen weiteren Portrait-Oeuvre als unerreicht gelten. Dieser Befund durchkreuzt ein Verständnis von Leistung, wonach diese als skalier- und potentiell immer steigerbar gedacht wird (vgl. Verheyen 2018). Dürers spätere Auftragsarbeiten, etwa das früher einmal den 20-Markschein zierende Konterfei der Elisabeth Tucher, reichen aber an das Niveau seiner Selbstportraits nicht heran. Dürer selbst gibt dafür eine plausible Erklärung ab. Von seinen akribisch ausgearbeiteten Spitzenwerken konnte er nicht leben, wohl aber von seinen „gemaine gemäll“, die er zeitsparend und effizient in Serie produzieren konnte. Für seine Referenzwerke bzw. Prüfstücke nahm er sich dagegen viel Zeit. Bezogen auf heutige Prüfungssysteme ließe sich insofern konstatieren, dass zeitkritische Formate mit knapp bemessener Prüfungszeit maximal eine Hervorbringung von gutem Mittelmaß befördern. Nichts jedoch, was im Prozess wachsen, was mehrere Reflexions-, Feedback- und Entwicklungsschleifen durchlaufen kann.

Zur Vielseitigkeit: Dürer hat zu Beginn seiner Laufbahn nicht nur selbstzweckhaft mit verschiedenen Portraittypen experimentiert, sondern diese bewusst auch zugeschnitten auf mögliche potentielle Kundenwünsche. Wenn er sich im Pelzmantel oder in feiner Robe als Patrizier inszeniert, so erzeugt er Vorbilder für zukünftige Auftragsarbeiten, im Sinne von: „Schaut her, liebe Patrizier Nürnbergs, so könntet ihr auf einem Portrait aussehen.“ Doch Dürer belässt es nicht bei der Bildnismalerei, man würde heute vielleicht sagen, dass er mehrkanalig sendet, alle Medienformate seiner Zeit nutzt, um so über verschiedenste Vertriebswege unterschiedliche Kunden zu akquirieren. Seine Druckgrafiken zieren Flugblätter, Bibeln und Weltchroniken mit weltlich-mythologischen, christlichen sowie tagesaktuellen Themen.

Natürlich erweist sich eine direkte Projektion dieses kunstgeschichtlichen Fallbeispiels auf die gegenwärtige Diskussion um Abschlussprüfungen als gewagt. Wenn man sich darauf jedoch einlässt, so lässt sich jedoch z.B. Folgendes ableiten:

  • Prüfungsergebnisse sollen nicht bloß das notwendige Vehikel für Zertifikate sein, sondern einen Eigenwert erhalten, als Produkte individueller Interessen und Auseinandersetzungen gleichsam gesellschaftliche Relevanz beanspruchen.
  • Qualität braucht Zeit – gute, individuelle Lernprodukte sind das Ergebnis eines längerfristigen, durch Feedback begleiteten häufig mäandernden Suchprozesses. Fachliche Standards sind dabei Orientierungsmarker für Beratung und Reflexion, das Ziel für alle sollte es sein bestmögliche Ergebnisse zu erzielen.
  • Selbstwirksamkeit für Geleistetes entsteht immer nur in einem authentischen kommunikativen Resonanzraum. Lernprodukte sind immer eingebettet in einen dialogischen Prozess und benötigen einen echten Adressatenbezug.

Das Expert*innen-Camp – auf dem Weg zu einer neuen Prüfkultur
Wenn ich auf meine bisherige Berufskarriere zurückschaue, dann waren es im NRW-Abitur immer die aus Projektkursen erwachsenen besonderen Lernleistungen, die diesen Kriterien genügten und die auch aus Prüfersicht ebenso lehrreich sowie reizvoll herausfordernd waren. Man begleitet dabei idealerweise im Lehrer*innenteam Schüler*innen über ein halbes Jahr bei der Konzeption sowie Erstellung ihrer Projektarbeit und plant mit dem gesamten Kurs ein öffentliches Event zur Ergebnispräsentation (Vernissage, Lesung etc.) der multiplen Exponate (Texte, Design- und Kunstobjekte). Im Nachgang reflektieren die Schüler*innen sodann den gesamten Prozess in Form eines Kolloquiums.

Warum nicht einfach das Projektkursprinzip zum Standard erheben? Die Schüler*innen wählen sich mit Beginn des neuen Halbjahres zwei Projektthemen in unterschiedlichen Fächern, um die Vielseitigkeit zu wahren. In allen übrigen Fächern wird die Abschlussnote aus den bisher erbrachten Leistungen gebildet. So können sich die Schüler*innen voll und ganz auf ihre eigenen Fragestellungen im Kontext der Projektarbeiten konzentrieren. Die ausgewählten Lehrer*innen begleiten den Prozess, der sich ideal auch in Distanz- bzw. Hybridsettings abbilden und realisieren lässt. Nach Abgabe der schriftlichen Portfolios nach drei Monaten Bearbeitungszeit gilt es dann noch die so erzeugten individuellen Lernprodukte in eine Abschlussveranstaltung einmünden zu lassen: ein Expert*innen-Camp der Abiturentia. Hier werden über eine ganze Woche für die gesamte Schulgemeinde und die interessierte Öffentlichkeit die Projekte der Schüler*innen in Form von physischen Schaustationen, Impulsvorträgen und selbst organisierten Diskussionsrunden online/ offline präsentiert und verhandelt. Das wäre ein würdiger Abschluss, mit dem die Oberstufenschüler*innen ihre Hochschulreife mehr als dokumentiert hätten und mit dem Gefühl die Schule verlassen, in einer „gelebten Wir-Kultur“ (Langela/ Wampfler 2020) etwas wirklich Nachhaltiges und Resonantes geleistet zu haben … just dreaming 😉

Literatur:

  • Eser, Thomas: Dürers Selbstbildnisse als Probestücke. In: Menschenbilder Beiträge zur Altdeutschen Kunst. Hg. v. Andreas Tacke/ Stefan Heinz. Petersberg 2011, S. 159-176
  • Gulden, Sebastian: Ideale Nachbarschaft. Das Wohnumfeld des jungen Dürer als Erfahrungsraum. In: Der frühe Dürer. Hg. v. Daniel Hess/ Thomas Eser. Nürnberg 2012, S. 29-38.
  • Verheyen, Nina: Die Erfindung der Leistung. München 2018
  • Zumbansen, Lars: Ein gutes Bild abgeben. Dürers Selbstbildnis als Visitenkarte. In: Kunst+Untericht 417-418 (2017), S. 15-26.

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