Projektarbeit in einem Diffenzierungskurs Informatik in der neunten Klasse

Im Anschluss an eine Reihe zu der Programmierung mit visuellen Programmiersprachen (hier Scratch) wünschten sich meine Schüler:innen des aktuellen 9er Differenzierungskurses Informatik / Technik, den ich zusammen mit „meinem“ Referendar unterrichte, ein großes Projekt, indem sie selbstständig eine neue – selbstgewählte – Thematik (der Lego EV3 Roboter) anhand eines eigenen Projektes (hier beispielhaft gezeigt an einer Legosortieranlage) umsetzen konnten.

Abb 1: Ein Bild der Legosortieranlage

Insgesamt hatten die Schüler:innen dazu sechs Doppelstunden (und soviel Zeit wie sie darüber hinaus verwenden wollten) Zeit, an dem Projekt zu arbeiten. Neben dem Produkt – welches der Gruppe präsentiert wurde – wurde auch eine Projektdokumentation von jeder Schüler:in angefertigt. Während an den Projekten in Gruppen von bis zu zwei Schüler:innen gearbeitet wurde, waren die Projektdokumentationen individuell und von jeder Schüler:in anzufertigen.

In einem ersten Schritt wurde zunächst nach Ideen gesucht. Dazu wurden in einer ersten Phase Ideen / Grundlagen gesammelt:

Abb 2: Die Grundlagen

Auf dieser Grundlage entwickelten die Gruppen jeweils eigene Ideen und sprachen diese in einer ersten Beratungsphase mit den beiden Lehrern ab (dabei ging es vor allem darum, nicht realisierbare Projekte zu vermeiden). Im laufe des Projekt wurden diese Ideen noch weiter ausdifferenziert.

Abb 3: Die Projektideen

Gemeinsam mit allen Schüler:innen wurde noch vor dem Start des Projekts über die Bewertung gesprochen und folgende Eckpunkte festgelegt:

Abb 4: Die Bewertungskriterien

Im folgenden Video ist ein Projekt „während der Arbeit“ zu sehen. In der Legosortieranlage geht es darum, dass Legosteine aufgrund ihrer Farbe an die richtige Stelle sortiert werden. Die Schülerin schreibt und entwirft hierzu:

Abb 5: Die Skizze

Ein Video des Projekt ist hier zu finden:

In ihrem Fazit schreibt die Schülerin:

Abb 6: Das Fazit

 

Lernen manifestieren – schulische Prüfungskultur im Spiegel von Julian Rosefeldts Filminstallation „Manifesto“

Cate Blanchett als Lehrerin in Julian Rosefeldts Manifesto (2015, Clip 13): Bildquelle

In einer Filmsequenz aus Julian Rosefeldts mehrstimmiger Installation „Manifesto“ (2015) bereitet die Lehrerin einer Grundschulklasse, gespielt von Cate Blanchett, ihre Lerngruppe auf einen Test vor. Während die Lehrerin noch die blau eingeschlagenen Schreibhefte kontrolliert, sinnieren die Schüler:innen still und Gedankenverloren und zeichnen auf leere Blätter an ihren Einzeltischen. Dabei wird aus dem Off ein Auszug aus Stan Brakhage’s „Metaphors on Vision“ verlesen, der passend zu den freien Imaginationen der Kinder das „unvoreingenommene Auge“ oder das „Abenteuer der Wahrnehmung“ beschwört. Dann, beim Austeilen der Testhefte, zitiert die Lehrerin eine „goldene Regel“ des Regisseurs Jim Jarmusch, wonach nichts originär sei und man daher Bekanntes aus diversen Quellen nur authentisch zu kompilieren und zu verarbeiten habe. In der Arbeitssituation selbst wandert die Lehrerin durch die Reihen, kontrolliert das Geschriebene und bedient sich bei ihren Rückmeldungen an verschiediene Schüler:innen im Wortlaut der rigiden Ge- und Verbote einer Anti-Hollywood-Ästhetik, wie sie Lars von Trier und Thomas Vinterberg in ihrem Dogma95-Manifest propagiert haben.

Wie in anderen Sequenzen der Installation Rosefeldts werden auch hier z.T. absurde Brechungen zwischen der collagierten Textpassagen auf der einen und dem situativen Setting auf der anderen Seite erzeugt. Nicht nur, dass Grundschulkinder von der Lehrerin weitgehend kontextfrei und altersunangemessen mit ästhetischen Prinzipien von Filmemachern des 20./21. Jahrhunderts konfrontiert werden, sondern auch, dass sie selbst in einer weitgehend sterilen und medienfreien Umgebung rezeptiv etwas verinnerlichen bzw. reproduzieren sollen, was sie selbst überhaupt nicht erproben und eigentätig reflektieren können.

Insgesamt weisen die Textpassagen jedoch auch untereinander maximale Differenzen auf und lassen sich in ihrer Reihenfolge als ein Prozess der sukzessiven Verengung und Schließung lesen. Diese Entwicklung korreliert dabei mit dem simulierten Prüfungsprozess selbst. So werden zu Beginn offene, entschematisierte Imagination und freie Referenzialität als Gütekriterien gestalterischer Produktion verlautbart, bevor in der Leistungssituation dann das strikte Regime zu reproduzierender Fakten regiert. Die Lehrerin scheint dabei von missionarischem Eifer gepackt, kontrolliert die geschriebenen Sätze der Schüler:innen und gibt dabei nicht nur berichtigende Rückmeldungen, sondern legt sogar selbst Hand an, wenn sie zum Radiergummi eines Schülers greift und einen imperativischen Satz des Dogma-Manifestes korrigiert: „The film must be in color. And special lighting ist not acceptable.“ Die letzten Sätze des Manifests werden dann mit der gesamten Schüler:innenschaft chorisch synchron intoniert. Dem deklarativen „Lernstoff“, der hier kollektiv memoriert wird, kommt damit eine fast sakrale Weihe zuteil.

Die Manifest-Texte, die hier wie ein Klangteppich über das Handlungssetting einer schulischen Unterrichts- und Prüfungssituation gelegt werden, wirken dabei einerseits radikal systemsprengend: „Imagine a world before the ‚beginning was the word‘“. Im Vorfeld einer Prüfung, die gemeinhin die (hand-)schriftliche Abfassung der Gedanken fast alternativlos prämiert, ist ein freies, assoziatives und bildbasiertes Denken, das nicht bereits verstellt ist durch ein Heer von fachbegrifflichen Kategorie-Containern und Schemata, geradezu revolutionär. Dies gilt ebenso für die Aufforderung vor einer Prüfung zu „klauen“, d.h. alles als Anregungspotential zu nutzen, was einen inspiriert und bei der Bewältigung einer selbst (!) gesetzten Aufgabe weiterbringt. Übertragen auf ein traditionelles Prüfungssystem würde hiermit natürlich das Abschreibverbot konterkariert, die strenge Regulierung von Hilfsmitteln, vor allem aber die Idee einer eigenständig originär zu erbringenden Leistung. Jim Jarmusch radikalisiert in dieser Aufforderung mit Bezug zu Jean-Luc-Godard eigentlich Felix Stalders Filterprinzip der „Referenzialität“ für kulturelle Produktionsprozesse in der Digitalität.

Andererseits muten insbesondere die Diktion der nachfolgenden Dogma-Regeln sowie das Vermittlungskonzept insgesamt eher systembewahrend oder gar verstärkend an. Hinter den von der Lehrerin mit Verve vorgetragen Gestaltungsprinzipien, die von den Schüler:innen fehlerfrei zu notieren oder verbal zu bestätigen sind, steht eine transmissive Vorstellung von Lernen, die vermeintlich objektive Sachverhalte bzw. Wahrheiten in Schüler:innenhirne einzutrichtern gedenkt. Dass die Lehrerin dabei überzeugend auftritt und die Schüler:innen selbst während des Tests unterstützt, das „Richtige“ im Heft stehen zu haben, macht sie zu einer Erfüllungsgehilfin eines etablierten (Prüfungs-)Systems, das Fachgegenstände und fachmethodische Prozeduren normativ vorgibt und nicht in einem je kollektiven wie individuellen Aushandlungsprozess der lernenden Akteure entwickeln lässt.

Vielleicht ist es daher Zeit für selbst verfasste Manifeste der Schüler:innen zu einem aus ihrer Sicht zeitgemäßen Lernen und Prüfen, auch wenn die Ausdrucksform für den Filmkünstler Julian Rosefeldt „fast romantisch“ (Tutton/ Paton 2016, S. 96) aus der Zeit gefallen scheint. Allerdings sieht er gerade Manifeste eher als „Rite of Passage“ für junge Leute:

„Ein Manifest repräsentiert oft die Stimme einer jungen Generation, konfrontiert mit einer Welt, die sie ablehnt, und gegen die sie angehen will. […] sie [die Manifeste] sind zugleich Zeugnisse einer Suche nach Identität, die – von großer Unsicherheit geprägt – laut in die Welt hineinposaunt wurden.“ (ebd.).

Für Rosefeldt sind Manifeste insofern literarische jugendkulturelle Äußerungen, ein „Sturm und Drang remastered“ (ebd.), ein mit emphatischem Überschuss vorgebrachter Wunsch nach kultureller Teilhabe. Neben wichtigen Bildungsinitativen, die wie das Projekt aula die direkte politische Beteiligung Jugendlicher in Schule unterstützen und entwickeln wollen, könnte die Ermächtigung der Schüler:innen zum (multimodalen) Gestalten von Manifesten eine poetische Form der Partizipation von Lern- und Prüfungskultur darstellen.

Website des Künstlers mit allen Einzelsequenzen aus „Manifesto“:
https://www.julianrosefeldt.com/film-and-video-works/manifesto-_2014-2015/ (29.07.2021)

Literatur:
Button, Sarah/ Paton, Justin: Interview mit Julian Rosefeldt. In: Gebers, Anna-Catharina/ Kittelmann, Udo u.a. (Hrsg.): Julian Rosefeldt: Manifesto. London: Koenig Books Ltd 2016, S. 96-99.

Von historischen Prüfkulturen lernen – Albrecht Dürers „Meisterportraits“ als Beispiel

Die Abiturprüfungen werden auch dieses Jahr unter Pandemiebedingungen ordnungsgemäß durchgeführt. Selbst wenn dies mehrfache Terminverschiebungen bedingt, scheint die Alternative – ein Aussetzen der Prüfungen undenkbar.

Zur Weitung bzw. Lockerung dieses festgefahrenen Denkkorsetts möchte ich ein Blick in die Kunstgeschichte wagen und eine historische Prüfpraxis vorführen, die es – so denke ich – erlaubt Ableitungen für die Gegenwart vorzunehmen und über positive Äquivalente zu den gängigen Abschlussklausuren nachzudenken.

Mein Fallbeispiel Albrecht Dürer mag dabei auf den ersten Blick ungewöhnlich wirken, denn eigentlich scheint dieser vermeintlich genialische Renaissance-Maler jedwedem Prüfungskontext entrückt. Doch auch die von ihm produzierten Meisterwerke – insbesondere seine Selbstportraits – sind keinesfalls interessenlos im luftleeren Raum entstanden. Wie die aktuelle Dürerforschung zeigt, hat sich der Nürnberger Maler mit deren Erstellung ganz bewusst in eine handwerkliche Prüftradition gestellt, ja geradezu einen Qualitätsdiskurs über Malerei heraus- und eingefordert. Hintergrund war, dass sich Dürer nach seinen Lehr- und Wanderjahren als Maler in Nürnberg etablieren wollte. Doch das Problem war, dass für die Malerei in der Reichstadt als „freier Kunst“ eine verbindliche heute würde man sagen „Ausbildungs- und Prüfungsordnung“ fehlte. Wie konnte man also den reichen Kaufleuten und Patriziern der Stadt, die er als potentielle Kunden ins Visier nahm, seine Meisterschaft demonstrieren? Er brauchte einen Nachweis. Prägend war dabei für ihn sein Elternhaus, namentlich die Goldschmiedewerkstatt seines Vaters. Das Goldschmiedehandwerk galt dabei als das am meisten normierte Kunsthandwerk. Jeder Lehrling hatte in diesem Handwerk am Ende seiner Ausbildung eine Reihe von Probestücken abzuliefern, die bestimmte Gütekriterien entsprechen mussten. Der Kunsthistoriker Thomas Eser nennt dabei – Eigenständigkeit, Hyperqualität und Vielseitigkeit (vgl. Eser 2011).

Albrecht Dürer: Selbstbildnis, 1498; Mischtechnik auf Holz, 52×45 cm. Madrid, Museo del Prado. Quelle: Wikipedia (public domain)

Zur Eigenständigkeit: Auf den ersten Blick scheint dieses Kriterium allen Kritikern von alternativen „open media“ -Prüfungen das Wort zu reden, gilt danach doch eine nicht kontrollierbare Zusammenarbeit oder das Einholen fremder Hilfestellung als Täuschungsversuch. Doch zeigt die als „Konstellationsforschung“ betriebene Kunstwissenschaft, dass Dürer gerade nicht als isolierte genialische Monade zu sehen ist, sondern fest eingebunden war in die „vielfältigen Wechselwirkungen und Einflüsse einer kulturell und ökonomisch höchst vitalen Nachbarschaft.“ (Gulden 2012, S. 38). So unterhielt er etwa rege Korrespondenz mit führenden lokalen Humanisten wie Willibald Pirckheimer oder Condrad Celtis. Letzterer flankierte die Bildwerke Dürers gar mit zahlreichen lobhudelnden Epigrammen.  Heute würde man wohl von hochkulturellen Werbetexten sprechen, die die „Marke“ Dürer zu etablieren verhalfen. D.h. nicht nur Dürers typisches Signet mit dem berühmten AD hat dessen Werke ausgezeichnet, nein es war vor allem auch die publizistische Konstruktion von individueller Außergewöhnlichkeit durch seine Freunde und Weggefährten.

Zur Hyperqualität: Eine besondere Pointe insbesondere des Münchener und Madrider Selbstportraits besteht darin, dass sie, obwohl sie am Anfang seiner Karriere als Bildnismaler mit Ende Zwanzig entstanden sind, qualitativ in seinem eigenen weiteren Portrait-Oeuvre als unerreicht gelten. Dieser Befund durchkreuzt ein Verständnis von Leistung, wonach diese als skalier- und potentiell immer steigerbar gedacht wird (vgl. Verheyen 2018). Dürers spätere Auftragsarbeiten, etwa das früher einmal den 20-Markschein zierende Konterfei der Elisabeth Tucher, reichen aber an das Niveau seiner Selbstportraits nicht heran. Dürer selbst gibt dafür eine plausible Erklärung ab. Von seinen akribisch ausgearbeiteten Spitzenwerken konnte er nicht leben, wohl aber von seinen „gemaine gemäll“, die er zeitsparend und effizient in Serie produzieren konnte. Für seine Referenzwerke bzw. Prüfstücke nahm er sich dagegen viel Zeit. Bezogen auf heutige Prüfungssysteme ließe sich insofern konstatieren, dass zeitkritische Formate mit knapp bemessener Prüfungszeit maximal eine Hervorbringung von gutem Mittelmaß befördern. Nichts jedoch, was im Prozess wachsen, was mehrere Reflexions-, Feedback- und Entwicklungsschleifen durchlaufen kann.

Zur Vielseitigkeit: Dürer hat zu Beginn seiner Laufbahn nicht nur selbstzweckhaft mit verschiedenen Portraittypen experimentiert, sondern diese bewusst auch zugeschnitten auf mögliche potentielle Kundenwünsche. Wenn er sich im Pelzmantel oder in feiner Robe als Patrizier inszeniert, so erzeugt er Vorbilder für zukünftige Auftragsarbeiten, im Sinne von: „Schaut her, liebe Patrizier Nürnbergs, so könntet ihr auf einem Portrait aussehen.“ Doch Dürer belässt es nicht bei der Bildnismalerei, man würde heute vielleicht sagen, dass er mehrkanalig sendet, alle Medienformate seiner Zeit nutzt, um so über verschiedenste Vertriebswege unterschiedliche Kunden zu akquirieren. Seine Druckgrafiken zieren Flugblätter, Bibeln und Weltchroniken mit weltlich-mythologischen, christlichen sowie tagesaktuellen Themen.

Natürlich erweist sich eine direkte Projektion dieses kunstgeschichtlichen Fallbeispiels auf die gegenwärtige Diskussion um Abschlussprüfungen als gewagt. Wenn man sich darauf jedoch einlässt, so lässt sich jedoch z.B. Folgendes ableiten:

  • Prüfungsergebnisse sollen nicht bloß das notwendige Vehikel für Zertifikate sein, sondern einen Eigenwert erhalten, als Produkte individueller Interessen und Auseinandersetzungen gleichsam gesellschaftliche Relevanz beanspruchen.
  • Qualität braucht Zeit – gute, individuelle Lernprodukte sind das Ergebnis eines längerfristigen, durch Feedback begleiteten häufig mäandernden Suchprozesses. Fachliche Standards sind dabei Orientierungsmarker für Beratung und Reflexion, das Ziel für alle sollte es sein bestmögliche Ergebnisse zu erzielen.
  • Selbstwirksamkeit für Geleistetes entsteht immer nur in einem authentischen kommunikativen Resonanzraum. Lernprodukte sind immer eingebettet in einen dialogischen Prozess und benötigen einen echten Adressatenbezug.

Das Expert*innen-Camp – auf dem Weg zu einer neuen Prüfkultur
Wenn ich auf meine bisherige Berufskarriere zurückschaue, dann waren es im NRW-Abitur immer die aus Projektkursen erwachsenen besonderen Lernleistungen, die diesen Kriterien genügten und die auch aus Prüfersicht ebenso lehrreich sowie reizvoll herausfordernd waren. Man begleitet dabei idealerweise im Lehrer*innenteam Schüler*innen über ein halbes Jahr bei der Konzeption sowie Erstellung ihrer Projektarbeit und plant mit dem gesamten Kurs ein öffentliches Event zur Ergebnispräsentation (Vernissage, Lesung etc.) der multiplen Exponate (Texte, Design- und Kunstobjekte). Im Nachgang reflektieren die Schüler*innen sodann den gesamten Prozess in Form eines Kolloquiums.

Warum nicht einfach das Projektkursprinzip zum Standard erheben? Die Schüler*innen wählen sich mit Beginn des neuen Halbjahres zwei Projektthemen in unterschiedlichen Fächern, um die Vielseitigkeit zu wahren. In allen übrigen Fächern wird die Abschlussnote aus den bisher erbrachten Leistungen gebildet. So können sich die Schüler*innen voll und ganz auf ihre eigenen Fragestellungen im Kontext der Projektarbeiten konzentrieren. Die ausgewählten Lehrer*innen begleiten den Prozess, der sich ideal auch in Distanz- bzw. Hybridsettings abbilden und realisieren lässt. Nach Abgabe der schriftlichen Portfolios nach drei Monaten Bearbeitungszeit gilt es dann noch die so erzeugten individuellen Lernprodukte in eine Abschlussveranstaltung einmünden zu lassen: ein Expert*innen-Camp der Abiturentia. Hier werden über eine ganze Woche für die gesamte Schulgemeinde und die interessierte Öffentlichkeit die Projekte der Schüler*innen in Form von physischen Schaustationen, Impulsvorträgen und selbst organisierten Diskussionsrunden online/ offline präsentiert und verhandelt. Das wäre ein würdiger Abschluss, mit dem die Oberstufenschüler*innen ihre Hochschulreife mehr als dokumentiert hätten und mit dem Gefühl die Schule verlassen, in einer „gelebten Wir-Kultur“ (Langela/ Wampfler 2020) etwas wirklich Nachhaltiges und Resonantes geleistet zu haben … just dreaming 😉

Literatur:

  • Eser, Thomas: Dürers Selbstbildnisse als Probestücke. In: Menschenbilder Beiträge zur Altdeutschen Kunst. Hg. v. Andreas Tacke/ Stefan Heinz. Petersberg 2011, S. 159-176
  • Gulden, Sebastian: Ideale Nachbarschaft. Das Wohnumfeld des jungen Dürer als Erfahrungsraum. In: Der frühe Dürer. Hg. v. Daniel Hess/ Thomas Eser. Nürnberg 2012, S. 29-38.
  • Verheyen, Nina: Die Erfindung der Leistung. München 2018
  • Zumbansen, Lars: Ein gutes Bild abgeben. Dürers Selbstbildnis als Visitenkarte. In: Kunst+Untericht 417-418 (2017), S. 15-26.

Ein schlechtes politisches Märchen: Unterricht in der Pandemie

Ich fühle mich im falschen Film oder als Akteur in einer schlechten Geschichte – Immer wieder kommen mir solche Gedanken, wenn ich aktuell Verlautbarungen einiger Kultusminister*innen (egal welcher politischer Couleur) zum Unterrichtsbetrieb im Januar lese und höre. Dieses Unbehangen möchte ich hier zum Anlass nehmen, dieses „Narrativ“ vom Primat des Präsenzunterrrichts in der Pandemie, welches Fakten schafft und reale Konsequenzen zeitigt, einmal einer erzähltheoretischen Reflexion zu unterziehen.

Narrative sind Formen der Komplexitätsbewältigung, sie ordnen Welt und Handlungen in dieser, sie statten kollektives sowie individuelles Tun mit Sinn aus. Neben maximal komplexen vor allem literarischen Geschichten, die immer wieder die Kontingenz und verworrene Mehrsträngigkeit unseres Lebens sowie unserer Handlungsmotive und Konseqeuenzen abbilden, tendieren politische Narrative eher zu klar konturierten Minimalerzählungen, die gezielt mit Dichtotomien bzw. konstruierten Gegensätzen operieren. Weil in dieser von mir erwähnten Geschichte vor allem Räume (Schule und Wohnort als Lernräume) zentrale Ankerpunkte bilden, bietet sich zur theoretischen (Re-)Modellierung vor allem die Grenzüberschreitungstheorie des estnischen Literaturwissenschaftlers Jurji M. Lotman an, die hier von Michael Titzmann konzise anhand anschaulicher Fallbeipiele ausgebreitet und erweitert wird.

Nur ganz verkürzt basiert die Grenzüberschreitungstheorie auf der Annahme, dass jeder minimale Erzählstruktur ereignishafte Handlungen einzelner oder mehrerer Figuren umfasst, die ihren Ereignisrang dadurch erhalten, dass sie eigentlich unwahrscheinliche bzw. sanktionierte Tätigkeiten bzw. Grenzübertritte darstellen. Das Konzept der Grenze setzt jedoch die vorgängige Ordnung mindestens zweier unterschiedlicher „semantischer Räume“ voraus. Semantische Räume sind in der Regel physische Topografien (wie die Höhle, der Wald, das Schloss im Märchen), die ideologisiert bzw. semantisiert werden, indem sie zusätzlich mit nicht-räumlichen Merkmalen aufgeladen werden (z.B. die Höhle als Ort der Gefahr, der Magie, der unregulierten Triebhaftigkeit und/ oder der Ursprünglichkeit etc.). In der Geschichte der KMK markieren der „Präsenzunterricht“ (= Schule = sR1) und der „Distanzunterricht“ (= Zuhause =s R2) die beiden oppositionellen semantischen Räume. Beide werden wie in der Grafik gezeigt mit weiteren Ideologien aufgeladen. Dabei ist augenfällig, dass der Präsenzunterricht eigentlich als Teilraum des „ursprünglichen Normalbetriebs“ konzeptioniert ist, der lediglich durch spezifische Zusatzregeln (Händewaschen, Alltagsmaske, Lüften etc.) einen temporären Sonderstatus erhält. Im Regelfall halten sich alle Akteure in diesem Raum auf, der Übertritt in den semantischen Raum „Distanzunterricht“ wird durch die Schulaufsicht streng sanktioniert und nur im individuellen Quarantänefall oder im Kontext eines zeitlich begrenzten Lockdowns ermöglicht. Zugleich tendiert das narrative System zu einer möglichst zügigen Umkehrbarkeit dieses Zustands. Die Abwertung des Raumes „Distanzunterricht“ wird dabei aus kolportierten Erfahrungen aus dem ersten Lockdown (t 1-2) gespeist: Chaos, monatelange Funkstille zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen, bevor dann die segensreiche Idee des flächendeckenden Präsenzunterrichts (t 2) geboren wurde. Wie der Wald im Märchen ist der „Distanzunterricht“ insofern ein Gefahrenraum, der bei längerem Aufenthalt sozialpsychologische Probleme bei den dort Anwesenden erzeugt und der unkalkulierbar und somit (bildungs-)ungerecht ist [Im Märchen ist der Wald immerhin aber vor allem ein Ort der Initiation und notwendigen Selbstfindung. Diese Qualität wird dem „Lernen Zuhause“ eher abgesprochen].

Die eigentliche Gefahr geht jedoch von solch einem kruden Weltmodell aus, nach welchem der semantische Raum „Distanzunterricht“ nicht jedoch der „Präsenzunterricht“ prekarisiert wird. Hier wird der Küchentisch, den sich mehrere Kinder teilen müssen, mit dem zugigen, unterkühlten und engen Klassenraum aufgewogen. Für die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit sind persönliche Opfer zu bringen! Damit dieses Erklärungsmodell funktioniert, bedarf es einiger (virologisch nicht gedeckter) Zusatzannahmen, wie das Ausweisen der Schule als sicheren Ort, der innerhalb der Gesamtgesellschaft als Nicht-Infektionsherd sogar einen Sonderstatus beanspruchen kann.

Ebenso fatal erscheint zudem die „Dramatisierung“ bzw. Sanktionierung des Grenzübertritts in den „Distanzunterricht“ als Ausnahmefall. Wenn dieser vor allem als Notfallmaßnahme gedacht wird, können in diesem auch die Akteure keine Strukturen etablieren und didaktisch-methodische Expertise sammeln. Die narrativen Dichotomien widersprechen im Übrigen ganz und gar einigen Ländervorgaben. So basiert in NRW in der Handreichung zur lernförderlichen Verknüpfung von Präsenz- und Distanzunterricht die Verbindung auf dem Modell der didaktischen Schieberegler. Deren Pointe liegt ja eigentlich gerade darin, dass sie Unterricht und Lernen jenseits von Räumen denken bzw. diese wie in „Blended Learning“-Szenarien als gleichwertig ansehen. Der Wechsel vom Präsenz- zum Distanzunterricht und vice versa wäre dementsprechend ein reguläres „Geschehen“ und kein narratives „Ereignis“. Doch scheint das Herstellen einer solchen pädagogischen Normalität weitaus voraussetzungsvoller als die Konstruktion eines schlechten Märchens, das wohl leider in Varianten auch 2021 noch munter weitererzählt wird. Ein „Meta-Ereignis“, das die dichotome Ordnung dieser selbst zusammengezimmerten Wirklichkeit grundlegend ändert und in Frage stellt, ist nicht in Sicht. Aber vielleicht braucht es einfach mehr anschauliche Gegenerzählungen auf breiter Front – auch in 2021!!!

Sicheres Lernen

Altersdifferenzierte Präsenz- und Betreuungsszenarien in der Pandemie – Eine Konzeptskizze für allgemeinbildende Schulen der Sekundarstufe I und II

Vorwort

Um den Fortbestand des Unterrichts und die Gesundheit aller Menschen in der Schulgemeinde sicherzustellen (wie es u.a. Lambert Austermann in seinem offenen Brief hier fordert), haben wir, Patricia Drewes, Lars Zumbansen und David Tepaße, im November 2020 eine Konzeptskizze für weiterführende Schulen entwickelt. Diese möchten wir hier teilen und zur Diskussion stellen.

Vorüberlegungen

  • An den Schulen ist es nicht mehr möglich, Präsenzunterricht als Regelbetrieb in vollem Stundenumfang durchzuführen, beispielsweise, weil viele Kolleg*innen und/oder Schüler*innen erkrankt oder in Quarantäne sind oder die Inzidenz lokal sehr hoch ist.
  • Die Schulen insbesondere im gebundenen Ganztag haben aber u.a. den Auftrag, die Schüler*innen auch zu betreuen, insbesondere in der Erprobungsstufe. 
  • Die bisherige Form des Distanzunterrichts, das heißt die Betreuung von  Lerngruppen jenseits des regulären Stundenplans, kann in diesem Setting nicht praktiziert werden, da sie neben dem Präsenzunterricht (auch wenn er einschränkt ist) zu einer Doppelbelastung der Lehrer*innen führen würde. 
  • Die Präsenzstundenpläne können im eingeschränkten Regelbetrieb zum einen aus pädagogischen Gründen, zum anderen wegen fehlender technischer Ausstattung nicht 1:1 in einen synchronen Distanzunterricht  überführt werden.
  • Daher brauchen die Schulen ein Modell eines eingeschränkten Regelbetriebs, der es erlaubt 
    • (1) zu differenzieren: die jüngsten Schüler*innen sollen (auch laut Empfehlung des RKI und laut NRW-Schulmail vom 21.10.2020) möglichst durchgängig in der Schule betreut werden, bei den älteren Schüler*innen kann man mit Modellen aus Präsenz und Distanz arbeiten.
    • (2) zu flexibilisieren: jede Schule sollte nach Maßgabe der eigenen Voraussetzungen (technisch, personell und infrastrukturell) entscheiden, welche Jahrgangsstufen in welchem genauen Turnus in der Schule sind.
    • (3) Personal in Präsenz vor Ort flexibel einzuteilen: um die Study Hall mit ausreichend Personal zu besetzen (und damit einer Benachteiligung bestimmter Schüler*innen vorzubeugen), soll an anderer Stelle Personal eingespart werden.
    • (4) durch die ständige Anwesenheit der Erprobungsstufe wird an der Schule auch keine zusätzliche Notbetreuung mehr benötigt.

Konzept geteilter Lerngruppen in Präsenz vs. Hybridkonzept

Das hier vorgeschlagene Konzept unterscheidet sich von dem in einigen Bundesländern (z.B. Niedersachsen) bereits praktizierten Hybridmodellen. Diese sehen z.B. eine pauschale Halbierung der Lerngruppen vor, wobei immer ein Teil in Präsenz, der andere in Distanz unterrichtet wird. Organisatorisch scheint dieses Modell ohne weiteren zusätzlichen Aufwand für jede Schule adaptierbar, allerdings weist es einige Schwächen auf:

  • Ein durchgehender Betreuungsanspruch insbesondere für die Erprobungsstufe lässt sich mit einem Hybridmodell nicht realisieren, da auch in den Klassen 5 und 6 immer die Hälfte der Schülerschaft systemisch fehlt. Gerade für jüngere Schülerinnen und Schüler erscheint zudem eine durchgehende tägliche Rhythmisierung und Strukturierung des Schulalltages unerlässlich. (Siehe Punkt 1 oben). Weiterhin ist an gebundenen Ganztagsschulen die Möglichkeit einer durchgehenden Mittagsverpflegung für die Schüler*innen der Erprobungsstufe gegeben.
  • Hybridmodelle führen – im Falle nicht konzeptionell entwickelter Varianten, die erprobte Blended-Learning-Konzepte zu Grunde legen – zu einer systemischen Doppelbelastung der Lehrer*innen, die immer synchron im Präsenzunterricht gebunden sind und parallel dazu ihre Lerngruppe auf Distanz betreuen müssen. Dies erfordert eine “doppelte Unterrichtsplanung” und führt eventuell zu einem Auseinanderentwickeln der Lernstände der geteilten Lerngruppen.
  • Mit Hybridmodellen ist deutlich schwieriger zu flexibilisieren (unter 1. schon in der Erprobungsstufe zu sehen). Hier sind insbesondere die infrastrukturellen Voraussetzungen (z.B. haben einige Schulen bestimmte Jahrgangsstufen 1:1 mit digitalen Endgeräten ausgestattet, anderen fehlen Ausstattung und WLAN) und die personellen Gegebenheiten der jeweiligen Schule nur schwer mit in die Planung einzubeziehen.

Beispiel-Präsenzpläne für 4 Wochen

Das Konzept der “geteilten Lerngruppen in Präsenz” halbiert wie Hybridmodelle die Schülerschaft, allerdings hier unterteilt nach Jahrgängen, d.h., bei einer Schule mit acht Jahrgangsstufen sind immer vier Jahrgänge in Präsenz sowie vier in Distanz. Dieses vorgeschlagene Beispiel sorgt für einen durchgehenden Präsenzunterricht der Erprobungsstufe. Die übrigen Jahrgangsstufen kommen in einem rollierenden System, wobei auch hier schulformspezifisch und mit Blick auf die Raum- und Personalsituation weitere Jahrgangsstufen priorisiert werden können. Für eine Sekundarschule und Gesamtschule wäre dies etwa noch die Jahrgangsstufe 10 als Abschlussjahrgang. In einem 4-Wochenplan etwa würden im Gymnasium Harsewinkel etwa der Abschlussjahrgang Q2 2x in Präsenz und 2x in Distanz erscheinen, die Jahrgangsstufe 9 hingegen nur 1x in Präsenz und 3x in Distanz. Hintergrund ist der Umstand, dass die Jahrgangsstufe 9 in Harsewinkel seit 2 Jahren mit digitalen Endgeräten ausgestattet und das asynchrone, selbstverantwortliche Arbeiten gewöhnt ist. Nach einem ähnlichen Prinzip der rollierenden  Anwesenheit verschiedener Jahrgänge wurden z.B. auch am Gymnasium Bethel jeweils ganze Jahrgänge in geteilten Lerngruppen mit durchgängiger Fachlehrerpräsenz in allen Lerngruppen beschult, was dadurch möglich wurde, dass das zeitliche Grundmuster von 45 bzw. 90 Minuten aufgebrochen und durch Kurzstunden von 35 bzw. 70 Minuten ersetzt wurde. Wir zeigen diese Beispiele an dieser Stelle auf, um deutlich zu machen, dass verschiedene Schulen je nach personeller und technischer Ausstattung verschiedene Lösungen finden können und sollten.

Andere Schulen können, abhängig von den strukturellen Voraussetzungen, andere Lösungen entwickeln und ihre Modelle gern in der Kommentarfunktion vorstellen. 

Gymnasium (G8)

W. 1 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9) Jgst. 6 ( ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der EF) Jgst. Q2 Study-Hall/ Study Rooms
W. 2 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q2) Jgst. 6  (ggf. (zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9 ) Jgst. 8 Jgst. Q1 Study-Hall/ Study Rooms
W. 3 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q1) Jgst. 9 Jgst. EF Study-Hall/ Study Rooms
W. 4 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. EF) Jgst. Q2 Study-Hall/ Study Rooms
und so weiter          

Gesamtschulen (G9)

W. 1 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 10 Jgst. Q2 Study-Hall / Study Rooms
W. 2 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q2) Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9 ) Jgst. 8 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. EF) Jgst. Q1 Study-Hall / zusätzlich vor allem für die 6er: klassenbezogene SR
W. 3 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q1) Jgst. 9 Jgst. EF Study-Hall / Study Rooms
W. 4 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9)

Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 10 Jgst. Q2 Study-Hall / zusätzlich vor allem für die 6er: klassenbezogene SR
und so weiter          

Unterstützende Betreuungs- und Fördermaßnahmen in Präsenz

Generell wird während der Phase des eingeschränkten Regelbetriebs der Study Hall und den Study Rooms als schulisch betreuten präsentischen Lernorten eine zentrale Bedeutung zukommen. Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufe können dabei die vorhandenen strukturellen und personellen Ressourcen vor Ort in Anspruch nehmen. Das kann unter Umständen auch heißen, dass am schulischen Arbeitsplatz ein Handapparat mit Büchern und analogen Lernhilfen eingerichtet wird. Konkret sind dazu z.B. auch die Lehrerinnen und Lehrer in den Aufsichten eingeplant, die die Schüler*innen kennen und die sich daher in besonderer Weise als vertraute Ansprechpartner*innen qualifizieren. 

Über ein Buchungssystem sind die Plätze und ggf. besondere Förder- und Betreuungsbedarfe in der Study Hall zu erfassen. Dabei können bei Bedarf auch weitere digitale Endgeräte der Schule in Anspruch genommen werden. Zudem können die Klassenleitungen im Falle besonderer Förderbedarfe oder bei Schwierigkeiten der Selbstregulation Schüler*innen verpflichtend in die Study Hall einbestellen (selektive Präsenzen).

Für die Oberstufe besteht die Möglichkeit, sich für eine bestimmte Zeit in (kleine) Räume vor Ort, sogenannte  “Study Rooms”, einzubuchen und diese für Phasen insbesondere der fachlichen Kooperation und Kollaboration zu nutzen. 

Didaktische Grundannahmen für das Arbeiten der Schülerinnen und Schüler zu Hause

Das hier ausgearbeitete Modell gewährleistet in den einzelnen Lerngruppen ein grundsätzlich gleichschrittiges Vorgehen. So alternieren für alle Schülerinnen und Schüler Phasen des synchronen Lernens im geteilten Klassenverband in Präsenz und Phasen des asynchronen, selbstverantwortlichen Lernens in Distanz. Die Rhythmisierung ist zwar individuell angepasst, folgt dabei aber konsequent einem Blended-Learning-Konzept. Dies bedeutet, dass im Idealfall Input- und Erarbeitungsphasen in Distanz stattfinden und von den Schülerinnen und Schülern mit Scaffolding der Lehrkräfte selbstständig absolviert werden. Die Präsenzphasen dienen sodann der plenaren Diskussion, Vertiefung und Anwendung des Gelernten. Nichtsdestotrotz ermöglicht dieses Modell auch in den Phasen des Distanzunterrichts eine stärkere lehrseitige Unterstützung, da durch die Absenz von je vier Jahrgängen mehr personelle Ressourcen freigesetzt werden als für die Betreuung der “verdoppelten Jahrgänge” vor Ort benötigt werden (s. Tabelle oben). 

Im Einzelfall bedeutet dies, dass im Sinne der Bildungsgerechtigkeit und gesellschaftsstabilisierenden Funktion, die Schule zugeschrieben wird, genügend Personal bereit steht für eine zusätzliche Unterstützung in der Study Hall. Ggf. ist es bei entsprechenden Raumkapazitäten auch möglich, jahrgangsbezogene Study Halls (etwa in der Aula, dem Selbstlernzentrum, großen Konferenzräumen etc.) einzurichten und von Lehrer*innen betreuen zu lassen, die die Schüler*innen aktuell selbst unterrichten. Weiterhin sind so durch das jeweils freigesetzte Personal flankierende Videokonferenzen für die Schülerinnen und Schüler in Distanz realisierbar. Auf der Grundlage zahlreicher Evaluationen mit Schülern und Eltern hat sich herausgestellt, dass eine zentrale Funktion der Videokonferenzen weniger die synchrone Wissensvermittlung darstellt, sondern diese vor allem der Strukturierung des Lerntages und Beziehungspflege (etwa durch morgendlich ritualisierte Startveranstaltungen) dienen sowie zur 1:1-Beratung im Kontext von Sprechzeiten genutzt werden können.

Organisatorische Bedingungen

Bei der Erstellung der neuen Raumpläne für altersdifferenzierte Präsenz ist vor allem darauf zu achten, dass die geteilten Lerngruppen nebeneinander liegen und im Idealfall die Jahrgangsstufen auch in einem Gebäude untergebracht sind. Damit sind die “Laufwege” für die betreuenden Lehrer*innen kurz und die Durchmischung mit anderen Stufen während der Pausen wird unterbunden.

  • bei der Betreuung sollten feste Lehrer*innen-“Klassenbuddies” im Idealfall unter Nutzung des bisherigen Stundenplaneinsatzes geschaffen werden, z.B. Lehrer*innen, die die 9a am Montag unterrichtet hätten, betreuen an diesem Tag die 5a in ihrem Fach)
  • Neben dem Stundenplan für den Präsenzunterricht sollten insbesondere denjenigen Klassen und Jahrgängen, die nicht durchgängig in Präsenz in der Schule sind, Wochenpläne oder Padlets zur Verfügung gestellt werden, die Aufgaben und Projekte für die  einzelnen Fächer transparent abbilden. 
  • Die Fachlehrer*innen einer Klasse sollten sich vor allem ab Klasse 7 wöchentlich im Klassenteam über die Aufgaben und Projekte der Klassen abstimmen, damit eine sinnvolle Mischung aus unterschiedlichen Herausforderungen für die Schüler*innen entsteht und sich auch asynchrone Formen der Leistungsüberprüfung nicht ballen. 
  • Eltern und v.a. Schüler*innen ab Klasse 7 werden regelmäßig zu ihrer Arbeitsbelastung im Distanzunterricht gefragt; in Rücksprache mit den Elternvertreter*innen sollten danach ggf. zügig Anpassungen vorgenommen werden. Dazu sollten in zweiwöchigem Rhythmus Abstimmungstermine mit den Elternpflegschaftsvorsitzenden vorgenommen werden. 
  • Für die Oberstufe (insbesondere die EF) sollte mit Blick auf den Distanzunterricht ein Tutor*innensystem etabliert werden, bei dem 4-5 Schüler*innen eine*n Tutor*in haben, der sie mit Blick auf Arbeitsbelastung, soziale Situation u.ä. berät. In der Q1 / Q2 kann diese Aufgabe auch von den Leistungskurslehrer*innen wahrgenommen werden. 
  • Alle Lehrer*innen sollten ein Logbuch führen, aus dem insbesondere mit Blick auf den Distanzunterricht ersichtlich ist, welche curricularen Schwerpunkte gesetzt wurden. 
  • Dadurch, dass die Erprobungsstufe immer in der Schule ist und die Klassen getrennt werden, muss eine Jahrgangsstufe in andere Räumlichkeiten ausweichen. Daher muss ein konsistenter Raumplan erstellt werden.
  • Für eine Teilung der Lerngruppen ist insbesondere mit Blick auf den Sportunterricht (oftmals beschränkte Hallen-/Raumkapazitäten) eine Absprache der Kolleg*innen erforderlich, sport-affine Beschäftigungen mit Abstand zu ermöglichen.

Konkretisierende Modellbeispiele

Abschließend möchten wir dieses Konzept anhand einer typischen Schulwoche prototypisch vorstellen: 

Max, 5. Schuljahr: Max befindet sich in der Erprobungsstufe einer weiterführenden Schule. Für ihn ändert sich durch den eingeschränkten Regelbetrieb fast nichts. Sein Unterricht findet vollumfänglich in der Schule statt – mit einem Unterschied: Max‘ Klasse, in der 30 Schüler*innen lernen, ist auf zwei Räume verteilt und wird im Regelfall von zwei Lehrer*innen betreut, die eng zusammenarbeiten. Max kann jeden Tag in der Schulmensa essen, auf dem Schulhof seine Freund*innen treffen und in kleinen Lerngruppen in Ruhe lernen. Wenn er Fragen hat, kann ihm innerhalb dieser kleinen Gruppe von Mitschüler*innen und der betreuenden Lehrkraft schnell geholfen werden. Max‘ Eltern sind sehr zufrieden mit dieser Lösung, weil sie es ermöglicht, dass Max durchgängig in der Schule betreut wird.

Elif, 8. Schuljahr: Elif lernt in dieser Woche nicht in der Schule, sondern am heimischen Schreibtisch. Die Lehrer*innen ihrer Klasse haben ihr dazu am Montagmorgen den Link zu einem Padlet geschickt, in dem festgehalten ist, in welchem Fach sie in dieser Woche synchron und asynchron arbeitet. So finden sich in diesem Padlet Arbeitsaufträge, fest terminierte Videokonferenzen in verschiedenen Fächern, Hinweise zu Erledigungsfristen und zu erstellenden Produkten. Elif weiß, dass sie ihre Lehrer*innen zu deren Dienstzeiten jederzeit anschreiben darf und ebenso wie im Präsenzunterricht eine Antwort erhält, wenn sie eine Frage hat. Besonders gut findet sie es, dass ihre Lehrer*innen bei der Unterrichtsplanung berücksichtigen, dass Kooperation und Kommunikation bei der Aufgabenerledigung wichtig sind. So gibt es immer wieder Phasen, in denen Elif sich mit ihren Mitschüler*innen per Telefon oder Videokonferenz zusammenschaltet, Aufgaben bespricht und Peer Feedback erhält. Elif lernt gern in Ruhe zu Hause. Elifs Freundin Hannah hingegen kann sich zu Hause eher schwer motivieren und hatte bei der Schulschließung im Frühling und Frühsommer große Probleme, ihre Aufgaben innerhalb bestimmter Fristen zu erledigen. Darum hat sie sich jetzt einen Platz in der Study Hall ihrer Schule  gebucht. Dort hat sie sich in einem großen Klassenraum einen Arbeitsplatz mit Schulbüchern, Heften und Übungsmaterial eingerichtet. Besonders gut findet sie es, dass dort über die Woche verteilt Lehrer*innen verschiedener Fächer sitzen und ihr mit mehr Ruhe als im Fachunterricht helfen können.

Dana, Q2: Dana ist in dieser Woche in der Schule. In kleinen Kursen (wie Religion) findet der Unterricht in der gesamten Gruppe statt, größere Gruppen (wie  ihr Biologie-LK) werden geteilt. Dadurch, dass die Räume für die geteilten Kurse nebeneinander liegen und die Lehrer*innen den Unterricht mithilfe eines digitalen Rückgrats seit Beginn der ersten Schulschließung so gestalten, dass alle auf dieselben digitalen Ressourcen (Kursheft, Whiteboard, Pinnwand) zurückgreifen können, ist es für Dana in Arbeitsphasen zweitrangig, ob sie neben Tim sitzt oder Tim im Nebenraum ihre Arbeitsprodukte digital kommentiert. Danas Freundin Julie besucht eine andere Schule, die, wie viele andere, noch auf WLAN und Arbeitsgeräte für Schüler*innen wartet. Auch dort funktioniert das Zwei-Raum-Prinzip; zwar fehlt die digitale Infrastruktur, dafür hat die Schule dort das Prinzip des „Lernens durch Lehren“ installiert: Phasenweise übernehmen dort Schüler*innen in enger Absprache mit den Lehrkräften kleinere Phasen des Unterrichts. Ergänzend dazu arbeiten die Lehrer*innen beider Schulen nach dem Flipped-Classroom-Prinzip: Sie nehmen eine Vorentlastung des Unterrichts durch Verlagerung von Input- und Instruktionsphasen in den häuslichen Bereich vor und nutzen die Unterrichtszeit für die Klärung von Fragen, Übungsphasen und Diskussionen. Manchmal liest Dana in der Zeitung, ihre Generation sei ein „Corona-Opfer“. Dana mag nicht so recht daran glauben. Zwar ist ihr Unterricht anders als vor einem Jahr, aber das ist für sie nicht schlecht: Sie merkt, dass ihre Lehrer*innen intensiv weiterlernen und alles dafür tun, dass sie gut auf ihre Prüfungen vorbereitet ist. Ihre Beziehung zu den Lehrer*innen ist durch die individuelle Betreuung wesentlich intensiver geworden. Dana arbeitet fast nur noch digital, mag dabei vor allem die kollaborativen Elemente – und vor allem hat sie mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernommen.

Matthias Meier: Herr Meier unterrichtet Deutsch und Biologie in den Sekundarstufen I und II. Er ist Klassenlehrer einer 8. Klasse, die auch Elif besucht; außerdem unterrichtet er Biologie im LK, den Dana gewählt hat. Weil die 8. Klasse in dieser Woche nicht vor Ort ist, hat er sich für seine Fächer Aufgabenstellungen überlegt, die seine Schüler*innen zu Hause erledigen können. In Biologie soll ein digitales Herbarium angelegt werden. Dazu müssen die Schüler*innen den Schreibtisch verlassen und Wald und Wiesen aufsuchen, sammeln, trocknen, fotografieren und digital dokumentieren.

Im Deutschunterricht arbeiten die Schüler*innen an einem Portfolio zur Einübung eines erweiterten Textsortenspektrums. Ihre Aufgabe ist es in dieser Woche, einen argumentierenden Text in einem Etherpad zu verfassen und sich digital Peer Feedback einzuholen. Im Plenum werden in der nächsten Woche die überarbeiteten Fassungen vorgestellt und offene Fragen geklärt.

In der Q2 findet sein Biologieunterricht in dieser Woche in physischer Präsenz statt. Weil Biologie ein beliebtes LK-Fach ist, werden die 20 Schüler*innen auf zwei Räume verteilt. Herr Meier wechselt regelmäßig zwischen diesen beiden Räumen, in denen die Schüler*innen in digitalen Gruppen auf der Basis eines gemeinsamen Padlets arbeiten. Weil Dana in Biologie sehr fit ist, hat sie Herrn Meier vorgeschlagen, dass sie in ihrer Teilgruppe in Absprache mit Herrn Meier kleinere Moderationsphasen übernimmt, deren Ergebnisse Herr Meier wiederum sichtet.

Während die Achtklässler zu Hause oder in der Study Hall arbeiten, begleitet Herr Meier seine Kollegin Frau Kaminski im Deutsch- und Biologieunterricht der Erprobungsstufe. Die beiden sprechen sich wöchentlich 1x ab, damit Herr Meier auch in den Teillerngruppen entsprechend Hilfestellung leisten und auf Schüler*innen mit Lernproblemen eingehen kann.

Die Schule, in der Herr Meier arbeitet, hat zu Beginn des neuen Schuljahrs eine Bedarfsabfrage gemacht, bei der sich herausstellte, dass viele Schüler*innen digitale Endgeräte nutzen konnten; die übrigen werden, bis die Geräte aus dem Soforthilfeprogramm eintreffen, mit Leihgeräten der Schule bzw. durch Gerätespenden ausgestattet, die der Förderverein unterstützt. Diese digitale Basisausstattung, verbunden mit der Study Hall, stimmt Herrn Meier zuversichtlich, dass seine Schule neben der kognitiven weiterhin auch ihre soziale und kommunikative Funktion in der Pandemie erfüllen kann, auch wenn nicht alle Menschen an jedem Tag am selben Ort lernen. 

Autor*innen: Patricia Drewes, David Tepaße, Lars Zumbansen

Mehr Vorderbühne wagen – Medienwahlen in einem agilen Lernsetting

Die Auswahl der passenden Lernmedien für ein spezifisches Unterrichtsvorhaben ist eine komplexe Planungsentscheidung, die noch einmal kompliziert wird durch die Erkenntnis, dass Medien als „Weltbildapparate“ (vgl. Rosa 2019 u. auch grundlegend zu Medien als Paradigmen Krommer 2019) in je eigener Weise immer schon den Blick auf den Unterrichtsgegenstand perspektivisch formatieren.

Doch was ist die Konsequenz aus diesem Sachverhalt? Gilt es als Lehrer*in mit immer mehr Bällen zu jonglieren, alle möglichen Varianten durchzuspielen, die Schüler*innen zugänglich und sachgerecht zugleich erscheinen, und denkbare Outputs dieser Auseinandersetzung zu antizipieren? 

Hinter diesen Fragen steht aus meiner Sicht ein bestimmtes professionelles Rollenverständnis, zu dem ich im Folgenden eine agilere Alternative anbieten möchte. 

Als Ankerpunkt und (historische) Reibefläche für meine Argumentation dient mir dabei ein Modell des kanadischen Soziologen Erving Goffmann, der das Theater als Großmetapher für die „soziale Welt“ entfaltet. Die Originalausgabe mit dem Titel „The Presentation of Self in Everyday Life“ stammt dabei aus dem Jahr 1959. Für unser Feld würde das Modell Goffmanns bedeuten, dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich in ihren sozialen Rollen auf der Bühne „Schule“ inszenieren und dabei wechselseitig Publikum füreinander sind. Für die Reflexion von Planungsentscheidungen von besonderem Interesse erweist sich dabei Goffmanns Konzept der „Hinterbühne“. Er schreibt:

„Wir finden häufig eine Trennung in einen Hintergrund, auf dem die Darstellung einer Rolle vorbereitet wird, und einen Vordergrund, auf dem die Aufführung stattfindet. Der Zugang zu diesen Regionen wird unter Kontrolle gehalten, um das Publikum daran zu hindern, hinter die Bühne zu schauen, und um Außenseiter davon fernzuhalten, eine Aufführung zu besuchen, die nicht für sie bestimmt ist. […] Zwischen Darsteller und Publikum herrscht ein stillschweigendes Einverständnis darüber, dass beide Gruppen handeln, als bestünde ein bestimmtes Ausmaß an Übereinstimmung und Gegensatz zwischen ihnen.“ (Goffmann 2019, S. 217). 

Für die Unterrichtsplanung gilt es den häuslichen Schreibtisch als Hinterbühne [Anm. 1] zu denken. Schüler*innen werden hier gewöhnlich als Objekt der Bedingungsanalyse einbezogen, selten als Partner, die mitgestalten und mitentscheiden können. Interessant sind dabei die weiterführenden Ausführungen Goffmanns zur Hinterbühne: 

„Hier werden Illusionen und Eindrücke offen entwickelt. Hier können Bühnenrequisiten und Elemente der persönlichen Fassade in einer Art kompakter Zusammenballung ganzer Handlungsrepertoires […] aufbewahrt werden.“ (ebd., S. 104)

Dies heißt, die Hinterbühne ist als ein Ort offener Vielfalt zu denken, hier werden Varianten ausgebreitet, hier sind sie nebeneinander greifbar. Nicht alles davon findet jedoch den Weg auf die Vorderbühne. Hier herrscht Selektionszwang. Bezogen auf unser Thema würde das bedeuten, eine „begründete zielgerichtete“ Medienwahl zu treffen, eine der kalkulierten, adressatengerechten Inszenierung. Das Theatermodell Goffmanns verstärkt dabei Kritikpunkte an einer gängigen Planungsdidaktik: Intransparenz, fehlende Partizipation und eine Vorstellung von Unterricht als lehrseitig choreografierter Interaktion. Einen disruptiven Weg aus diesem kontrollierten Setting weist dabei bereits Ralf Dahrendorf 1969 in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von „Wir alle spielen Theater“: 

„Seine [Goffmans] Darstellung des Verhaltens auf und hinter der Bühne nimmt zwei soziale Orte als gegeben hin, deren Verhältnis auch anders sein könnte. […] Wie, wenn mehr Darsteller verraten, was sich hinter der Bühne abspielt? Wie, wenn das Publikum mitzuspielen beginnt? Das alles kann mag nicht zu einem Ausbruch aus der Gesellschaft führen; es kann sie aber verändern, […].“ (Dahrendorf, Ralf: In: ebd., S. VIII)

Die Pointe dieses Gedankenspiels sind zwei Fluchtbewegungen, die sich sehr gut mit einem Konzept von agiler Didaktik (vgl. Wampfler 2019) in Einklang bringen lassen. Zum einen geht es darum den Schleier zur Hinterbühne zu lüften, Schüler*innen in Planungsentscheidungen einzubeziehen, dort vorhandene Vielfalt nicht lehrseitig „didaktisch zu reduzieren“, sondern als gemeinsame Herausforderung und Lerngelegenheit auf die Vorderbühne zu holen. Zum anderen gilt es dabei die Schüler*innen ebenfalls von der anderen Seite aus dem Publikum auf die Bühne zu holen, sie zu Ko-Konstrukteuren des Unterrichts zu machen, sie mit ihrer Haltung, ihrer Expertise und den auch unerwarteten Lösungsansätzen, die sie einzubringen vermögen, ernst zu nehmen. 

Doch was in der Theorie idealistisch klingt, muss in der Praxis auch eingelöst werden. Ich möchte zumindest einen Ansatz in diese Richtung skizzieren, wie ich ihn mit einem Kunstgrundkurs der Jahrgangsstufe 11 beschritten habe. Ausgangspunkt war eine eigentlich bekannte Hinterbühnenproblematik von Kunstlehrer*innen: Wie kann ich meinen Schüler*innen eine Plastik – hier das Werk „L’homme qui marche“ von Auguste Rodin – begreifbar machen, ohne Ihnen eine Originalbegegnung im Museum ad hoc ermöglichen zu können? Bei vollplastischen Figuren ohne eindeutige Hauptansicht verbietet es sich eigentlich die Schüler*innen mit einer fotografischen Reproduktion zu konfrontieren, die immer bereits durch Perspektivierung, Standpunkt und Ausleuchtung eine Deutungshypothese markiert. In Zeiten fehlender medialer Alternativen wäre der Griff zum Schulbuch eine probate Wahl gewesen, nicht aber heute: so hält etwa das Musée Rodin in Paris zu bekannten Werken des Künstlers freie 3D-Datensätze zum Download bereit.

Was ist nun aber die passende Darbietungsform für das Vektor-Modell der Plastik und welche Erkenntnisse lassen sich überhaupt an den 3D-Modellen gewinnen? Genau diese Frage habe ich von der Hinter- auf die Vorderbühne in den Unterricht getragen. Einige Schüler*innen hatten bereits im Vorjahr in einem Projektkurs Erfahrungen mit dem 3D-Design und auch praktische Expertise gesammelt. Wir sind gemeinsam in den schuleigenen Maker-Space (vgl. Luga 2019) gegangen, der u.a. mit einer VR-Brillen-Station, sechs 3D-Druckern, einem iPad-Koffer sowie etlichen Cardbord-Brillensets ausgestattet war. In einem Design-Thinking-Prozess (vgl. auch Förtsch/ Stöffler 2020, S. 13) wurden hier in Kleingruppen methodische Prototypen für die eigene Werkanalyse ersonnen. Dabei wurde schnell eine Problematik ersichtlich: Die in großer Anzahl verfügbaren Cardboard-Brillen hätten zwar einen niedrigschwelligen und breiten Zugang zu einer 3D-Ansicht des Modells etwa über Sketchfab ermöglicht, jedoch keine direkte Interaktion mit dem Modell. Den Schüler*innen war es aber wichtig, ihre Erkundungen am Werk direkt visualisieren und mit anderen teilbar machen zu können. In der gemeinsamen Präsentationsrunde bildeten sich drei Zugangsstationen aus:

  • Eine maßstabsgetreue Erkundung mit der VR-Brille, wobei die Datei in das Programm Google Tiltbrush geladen werden sollte, um Markierungen im Raum zu ermöglichen
  • Eine Integration in die kostenlose 3D-Präsentations-App Fusion360 auf dem IPad, bei dem zu unterschiedlichen Ansichten Kompositionsskizzen kollaborativ angefertigt werden können, die sich auch wechselseitig kommentieren lassen.
  • Eine Station mit mehreren miniaturisierten 3D-Drucken der Plastik, um insbesondere die Oberflächenstruktur in den Blick zu nehmen. Papier, Graphitstifte und Ton, ggf. zur Abformung sollten Möglichkeiten der „Notation“ bieten

Jede Gruppe baute nun für die Folgestunde jeweils eine Station. Dazu erhielten sie jeweils den Datensatz u. ggf. Accountdaten zu Tiltbrush u. Fusion360 von mir. Auch wenn einige Schüler*innen bereits Erfahrung mit dem 3D-Druck gesammelt hatten und eine druckfähige Datei mit einem Slicer erstellen konnten, unterstützte ich hier vor allem bei der Koordination der Druckprozesse. Da jeder Druck ca. 6 Stunden dauerte, übernahm ich selbst auch einige Drucke, die ich von daheim anstieß.

Da die VR-Station nur einmal existierte, musste ein alternierendes Verfahren erdacht werden, das keinen Leerlauf für einige Kursteilnehmer produzierte. Wir einigten uns darauf, dass der „Maker-Space“ in den nachfolgenden Kunstdoppelstunden neben dem offiziellen Werkraum immer als Lernraum solange offenstand, bis die 3 Stationen von allen Schüler*innen durchlaufen wurden. Parallel arbeiteten alle bildnerisch-praktisch an eigenen figürlichen Plastiken. 

Die Leitfragen für die mediengestützten Werkbegegnungen an den einzelnen Stationen waren dabei diese:

  • Welches Wirkungspotential geht von der Plastik aus, wie ändert sich dieses je nach Ansicht und Perspektive? 
  • Wie beeinflusst/ verändert das mediale Setting meinen Blick auf die Plastik? Welche Aspekte geraten dabei unterschiedlich stark in den Blick? 
  • Auf welche Weise kann ich dabei die dem Programm/ Medium eigenen Mittel nutzen, um meine Erkenntnisse zu dokumentieren/ in analytische Zeichnungen zu übersetzen?

Nachdem alle Schüler*innen alle Stationen durchlaufen hatten, fand ein Abschlussplenum statt, bei dem ich die Kursteilnehmer nun mit dem ursprünglich als Zugang verworfenen Lehrbuchtext konfrontierte, der mit einer seitengroßen Abbildung des „Schreitenden“ von Rodin aufwartete (s. Abb. oben). Dabei sollte ein Abgleich der Bild- und Textinformationen mit den eigenen Analysebefunden erfolgen. 

Abb.: Einzeichnung des Betrachterstandpunktes u. des Wirkungspotentials in Tilt Brush (links); Anfertigung u. Kommentierung analysierender Skizzen in Fusion360 (rechts)

Durch eine Einfärbung der Teilvolumina aus verschiedenen Ansichten in Fusion360 konnte das sich jeweils verändernde Dominanzverhältnis von Ober- und Unterkörper sichtbar dokumentiert werden, das das Umschreiten der Plastik zu einem dynamischen Rezeptionsakt macht. Das im flankierenden Erläuterungstext beschriebene „Modelé“, die Sichtbarmachung des Herstellungsprozesses durch Hinzufügen und Eindrücken von Tonklumpen, konnte von den Schüler*innen dabei vor allem durch den am 3D-Druck ausgemachten Kontrast der Oberflächenbeschaffenheit herausgearbeitet werden. Durch eine Frottage auf dünnem Papier wurden die glatten, vor allem konvexen Oberschenkelpartien mit den zerklüfteten, harten Graten vor allem an Oberkörper und Rücken abgetragen. Gegenüber dem im Text herausgehobenen Naturalismus der kräftigen Beine äußerten sich die Kursteilnehmer dagegen skeptisch, wurde doch gerade die überdimensionierte Oberschenkel- und Wadenmuskulatur in der VR-Begegnung als hyperrealistisch, idealisierend interpretiert.

Das Beispiel zeigt, das eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der Bild-Textkoppel des Lehrbuchs vor allem durch die multiperspektivischen medialen Zugänge angebahnt werden konnte, unterschiedliche Manifestationen ein und desselben Datensatzes. Die Entwicklung eines medienreflexiven Bewusstseins der Schüler*innen fußt dabei auf dem, was der Medienhistoriker Michael Giesecke als „Oszillationsfähigkeit, das probeweise Fokussieren mal des einen, mal des anderen Stils“ (Giesecke 2017, S. 500) bezeichnet. Das hier skizzierte Unterrichtsvorhaben ist dabei natürlich nicht voraussetzungslos und im konkreten Fall nur realisierbar durch die technischen Ressourcen und die Vorbildung der Schüler*innen im Umgang damit. Das Prinzip ist aber übertragbar.

Ich plädiere dabei dafür das mediale Probehandeln vom Planungstisch auf die Vorderbühne des Unterrichtsgeschehens zu holen und die Schüler*innen selbst immer wieder zahlreiche methodische Prototypen mit den ihnen erweiterten medialen Mitteln entwickeln zu lassen. Auf diese Weise lässt sich jenseits etablierter Nutzungsroutinen Kreativität als Basis von Unterscheidungsfähigkeit (und damit als Kritik im ursprünglichen Sinne ) kultivieren. Der hier dargestellte Ansatz führt dabei notwendig zu einer Verlangsamung des Unterrichtsprozesses und somit folgerichtig zu einem noch exemplarischeren fachlichen Lernen. Doch dieser Preis lohnt sich, wenn Schüler*innen dadurch mehr Regiekompetenzen im schulischen „Theater“ erhalten.

[1] Anmerkung: Hinterbühnen müssen nach Goffmann dabei nicht zwangsläufig dauerhafte physische Orte, sondern können auch temporär situative Settings sein. Allerdings verweisen sichtbar kontrollierte Hinterbühnen immer auch auf eine bestimmte soziale Hierarchie. Während für Lehrer*innen das „Lehrerzimmer“ eine mehr oder minder stark regulierte „Hinterbühne“ zum Unterricht darstellt, gibt es für Schüler*innen im Schulraum solche exklusiven Zonen systemisch selten, die komplett der Kontrolle bzw. Aufsicht von Lehrer*innen entzogen sind. Temporäre Zufluchten sind hier maximal die Toiletten.

Literatur: