Lernen manifestieren – schulische Prüfungskultur im Spiegel von Julian Rosefeldts Filminstallation „Manifesto“

Cate Blanchett als Lehrerin in Julian Rosefeldts Manifesto (2015, Clip 13): Bildquelle

In einer Filmsequenz aus Julian Rosefeldts mehrstimmiger Installation „Manifesto“ (2015) bereitet die Lehrerin einer Grundschulklasse, gespielt von Cate Blanchett, ihre Lerngruppe auf einen Test vor. Während die Lehrerin noch die blau eingeschlagenen Schreibhefte kontrolliert, sinnieren die Schüler:innen still und Gedankenverloren und zeichnen auf leere Blätter an ihren Einzeltischen. Dabei wird aus dem Off ein Auszug aus Stan Brakhage’s „Metaphors on Vision“ verlesen, der passend zu den freien Imaginationen der Kinder das „unvoreingenommene Auge“ oder das „Abenteuer der Wahrnehmung“ beschwört. Dann, beim Austeilen der Testhefte, zitiert die Lehrerin eine „goldene Regel“ des Regisseurs Jim Jarmusch, wonach nichts originär sei und man daher Bekanntes aus diversen Quellen nur authentisch zu kompilieren und zu verarbeiten habe. In der Arbeitssituation selbst wandert die Lehrerin durch die Reihen, kontrolliert das Geschriebene und bedient sich bei ihren Rückmeldungen an verschiediene Schüler:innen im Wortlaut der rigiden Ge- und Verbote einer Anti-Hollywood-Ästhetik, wie sie Lars von Trier und Thomas Vinterberg in ihrem Dogma95-Manifest propagiert haben.

Wie in anderen Sequenzen der Installation Rosefeldts werden auch hier z.T. absurde Brechungen zwischen der collagierten Textpassagen auf der einen und dem situativen Setting auf der anderen Seite erzeugt. Nicht nur, dass Grundschulkinder von der Lehrerin weitgehend kontextfrei und altersunangemessen mit ästhetischen Prinzipien von Filmemachern des 20./21. Jahrhunderts konfrontiert werden, sondern auch, dass sie selbst in einer weitgehend sterilen und medienfreien Umgebung rezeptiv etwas verinnerlichen bzw. reproduzieren sollen, was sie selbst überhaupt nicht erproben und eigentätig reflektieren können.

Insgesamt weisen die Textpassagen jedoch auch untereinander maximale Differenzen auf und lassen sich in ihrer Reihenfolge als ein Prozess der sukzessiven Verengung und Schließung lesen. Diese Entwicklung korreliert dabei mit dem simulierten Prüfungsprozess selbst. So werden zu Beginn offene, entschematisierte Imagination und freie Referenzialität als Gütekriterien gestalterischer Produktion verlautbart, bevor in der Leistungssituation dann das strikte Regime zu reproduzierender Fakten regiert. Die Lehrerin scheint dabei von missionarischem Eifer gepackt, kontrolliert die geschriebenen Sätze der Schüler:innen und gibt dabei nicht nur berichtigende Rückmeldungen, sondern legt sogar selbst Hand an, wenn sie zum Radiergummi eines Schülers greift und einen imperativischen Satz des Dogma-Manifestes korrigiert: „The film must be in color. And special lighting ist not acceptable.“ Die letzten Sätze des Manifests werden dann mit der gesamten Schüler:innenschaft chorisch synchron intoniert. Dem deklarativen „Lernstoff“, der hier kollektiv memoriert wird, kommt damit eine fast sakrale Weihe zuteil.

Die Manifest-Texte, die hier wie ein Klangteppich über das Handlungssetting einer schulischen Unterrichts- und Prüfungssituation gelegt werden, wirken dabei einerseits radikal systemsprengend: „Imagine a world before the ‚beginning was the word‘“. Im Vorfeld einer Prüfung, die gemeinhin die (hand-)schriftliche Abfassung der Gedanken fast alternativlos prämiert, ist ein freies, assoziatives und bildbasiertes Denken, das nicht bereits verstellt ist durch ein Heer von fachbegrifflichen Kategorie-Containern und Schemata, geradezu revolutionär. Dies gilt ebenso für die Aufforderung vor einer Prüfung zu „klauen“, d.h. alles als Anregungspotential zu nutzen, was einen inspiriert und bei der Bewältigung einer selbst (!) gesetzten Aufgabe weiterbringt. Übertragen auf ein traditionelles Prüfungssystem würde hiermit natürlich das Abschreibverbot konterkariert, die strenge Regulierung von Hilfsmitteln, vor allem aber die Idee einer eigenständig originär zu erbringenden Leistung. Jim Jarmusch radikalisiert in dieser Aufforderung mit Bezug zu Jean-Luc-Godard eigentlich Felix Stalders Filterprinzip der „Referenzialität“ für kulturelle Produktionsprozesse in der Digitalität.

Andererseits muten insbesondere die Diktion der nachfolgenden Dogma-Regeln sowie das Vermittlungskonzept insgesamt eher systembewahrend oder gar verstärkend an. Hinter den von der Lehrerin mit Verve vorgetragen Gestaltungsprinzipien, die von den Schüler:innen fehlerfrei zu notieren oder verbal zu bestätigen sind, steht eine transmissive Vorstellung von Lernen, die vermeintlich objektive Sachverhalte bzw. Wahrheiten in Schüler:innenhirne einzutrichtern gedenkt. Dass die Lehrerin dabei überzeugend auftritt und die Schüler:innen selbst während des Tests unterstützt, das „Richtige“ im Heft stehen zu haben, macht sie zu einer Erfüllungsgehilfin eines etablierten (Prüfungs-)Systems, das Fachgegenstände und fachmethodische Prozeduren normativ vorgibt und nicht in einem je kollektiven wie individuellen Aushandlungsprozess der lernenden Akteure entwickeln lässt.

Vielleicht ist es daher Zeit für selbst verfasste Manifeste der Schüler:innen zu einem aus ihrer Sicht zeitgemäßen Lernen und Prüfen, auch wenn die Ausdrucksform für den Filmkünstler Julian Rosefeldt „fast romantisch“ (Tutton/ Paton 2016, S. 96) aus der Zeit gefallen scheint. Allerdings sieht er gerade Manifeste eher als „Rite of Passage“ für junge Leute:

„Ein Manifest repräsentiert oft die Stimme einer jungen Generation, konfrontiert mit einer Welt, die sie ablehnt, und gegen die sie angehen will. […] sie [die Manifeste] sind zugleich Zeugnisse einer Suche nach Identität, die – von großer Unsicherheit geprägt – laut in die Welt hineinposaunt wurden.“ (ebd.).

Für Rosefeldt sind Manifeste insofern literarische jugendkulturelle Äußerungen, ein „Sturm und Drang remastered“ (ebd.), ein mit emphatischem Überschuss vorgebrachter Wunsch nach kultureller Teilhabe. Neben wichtigen Bildungsinitativen, die wie das Projekt aula die direkte politische Beteiligung Jugendlicher in Schule unterstützen und entwickeln wollen, könnte die Ermächtigung der Schüler:innen zum (multimodalen) Gestalten von Manifesten eine poetische Form der Partizipation von Lern- und Prüfungskultur darstellen.

Website des Künstlers mit allen Einzelsequenzen aus „Manifesto“:
https://www.julianrosefeldt.com/film-and-video-works/manifesto-_2014-2015/ (29.07.2021)

Literatur:
Button, Sarah/ Paton, Justin: Interview mit Julian Rosefeldt. In: Gebers, Anna-Catharina/ Kittelmann, Udo u.a. (Hrsg.): Julian Rosefeldt: Manifesto. London: Koenig Books Ltd 2016, S. 96-99.