Mehr Vorderbühne wagen – Medienwahlen in einem agilen Lernsetting

Die Auswahl der passenden Lernmedien für ein spezifisches Unterrichtsvorhaben ist eine komplexe Planungsentscheidung, die noch einmal kompliziert wird durch die Erkenntnis, dass Medien als „Weltbildapparate“ (vgl. Rosa 2019 u. auch grundlegend zu Medien als Paradigmen Krommer 2019) in je eigener Weise immer schon den Blick auf den Unterrichtsgegenstand perspektivisch formatieren.

Doch was ist die Konsequenz aus diesem Sachverhalt? Gilt es als Lehrer*in mit immer mehr Bällen zu jonglieren, alle möglichen Varianten durchzuspielen, die Schüler*innen zugänglich und sachgerecht zugleich erscheinen, und denkbare Outputs dieser Auseinandersetzung zu antizipieren? 

Hinter diesen Fragen steht aus meiner Sicht ein bestimmtes professionelles Rollenverständnis, zu dem ich im Folgenden eine agilere Alternative anbieten möchte. 

Als Ankerpunkt und (historische) Reibefläche für meine Argumentation dient mir dabei ein Modell des kanadischen Soziologen Erving Goffmann, der das Theater als Großmetapher für die „soziale Welt“ entfaltet. Die Originalausgabe mit dem Titel „The Presentation of Self in Everyday Life“ stammt dabei aus dem Jahr 1959. Für unser Feld würde das Modell Goffmanns bedeuten, dass Schüler*innen und Lehrer*innen sich in ihren sozialen Rollen auf der Bühne „Schule“ inszenieren und dabei wechselseitig Publikum füreinander sind. Für die Reflexion von Planungsentscheidungen von besonderem Interesse erweist sich dabei Goffmanns Konzept der „Hinterbühne“. Er schreibt:

„Wir finden häufig eine Trennung in einen Hintergrund, auf dem die Darstellung einer Rolle vorbereitet wird, und einen Vordergrund, auf dem die Aufführung stattfindet. Der Zugang zu diesen Regionen wird unter Kontrolle gehalten, um das Publikum daran zu hindern, hinter die Bühne zu schauen, und um Außenseiter davon fernzuhalten, eine Aufführung zu besuchen, die nicht für sie bestimmt ist. […] Zwischen Darsteller und Publikum herrscht ein stillschweigendes Einverständnis darüber, dass beide Gruppen handeln, als bestünde ein bestimmtes Ausmaß an Übereinstimmung und Gegensatz zwischen ihnen.“ (Goffmann 2019, S. 217). 

Für die Unterrichtsplanung gilt es den häuslichen Schreibtisch als Hinterbühne [Anm. 1] zu denken. Schüler*innen werden hier gewöhnlich als Objekt der Bedingungsanalyse einbezogen, selten als Partner, die mitgestalten und mitentscheiden können. Interessant sind dabei die weiterführenden Ausführungen Goffmanns zur Hinterbühne: 

„Hier werden Illusionen und Eindrücke offen entwickelt. Hier können Bühnenrequisiten und Elemente der persönlichen Fassade in einer Art kompakter Zusammenballung ganzer Handlungsrepertoires […] aufbewahrt werden.“ (ebd., S. 104)

Dies heißt, die Hinterbühne ist als ein Ort offener Vielfalt zu denken, hier werden Varianten ausgebreitet, hier sind sie nebeneinander greifbar. Nicht alles davon findet jedoch den Weg auf die Vorderbühne. Hier herrscht Selektionszwang. Bezogen auf unser Thema würde das bedeuten, eine „begründete zielgerichtete“ Medienwahl zu treffen, eine der kalkulierten, adressatengerechten Inszenierung. Das Theatermodell Goffmanns verstärkt dabei Kritikpunkte an einer gängigen Planungsdidaktik: Intransparenz, fehlende Partizipation und eine Vorstellung von Unterricht als lehrseitig choreografierter Interaktion. Einen disruptiven Weg aus diesem kontrollierten Setting weist dabei bereits Ralf Dahrendorf 1969 in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von „Wir alle spielen Theater“: 

„Seine [Goffmans] Darstellung des Verhaltens auf und hinter der Bühne nimmt zwei soziale Orte als gegeben hin, deren Verhältnis auch anders sein könnte. […] Wie, wenn mehr Darsteller verraten, was sich hinter der Bühne abspielt? Wie, wenn das Publikum mitzuspielen beginnt? Das alles kann mag nicht zu einem Ausbruch aus der Gesellschaft führen; es kann sie aber verändern, […].“ (Dahrendorf, Ralf: In: ebd., S. VIII)

Die Pointe dieses Gedankenspiels sind zwei Fluchtbewegungen, die sich sehr gut mit einem Konzept von agiler Didaktik (vgl. Wampfler 2019) in Einklang bringen lassen. Zum einen geht es darum den Schleier zur Hinterbühne zu lüften, Schüler*innen in Planungsentscheidungen einzubeziehen, dort vorhandene Vielfalt nicht lehrseitig „didaktisch zu reduzieren“, sondern als gemeinsame Herausforderung und Lerngelegenheit auf die Vorderbühne zu holen. Zum anderen gilt es dabei die Schüler*innen ebenfalls von der anderen Seite aus dem Publikum auf die Bühne zu holen, sie zu Ko-Konstrukteuren des Unterrichts zu machen, sie mit ihrer Haltung, ihrer Expertise und den auch unerwarteten Lösungsansätzen, die sie einzubringen vermögen, ernst zu nehmen. 

Doch was in der Theorie idealistisch klingt, muss in der Praxis auch eingelöst werden. Ich möchte zumindest einen Ansatz in diese Richtung skizzieren, wie ich ihn mit einem Kunstgrundkurs der Jahrgangsstufe 11 beschritten habe. Ausgangspunkt war eine eigentlich bekannte Hinterbühnenproblematik von Kunstlehrer*innen: Wie kann ich meinen Schüler*innen eine Plastik – hier das Werk „L’homme qui marche“ von Auguste Rodin – begreifbar machen, ohne Ihnen eine Originalbegegnung im Museum ad hoc ermöglichen zu können? Bei vollplastischen Figuren ohne eindeutige Hauptansicht verbietet es sich eigentlich die Schüler*innen mit einer fotografischen Reproduktion zu konfrontieren, die immer bereits durch Perspektivierung, Standpunkt und Ausleuchtung eine Deutungshypothese markiert. In Zeiten fehlender medialer Alternativen wäre der Griff zum Schulbuch eine probate Wahl gewesen, nicht aber heute: so hält etwa das Musée Rodin in Paris zu bekannten Werken des Künstlers freie 3D-Datensätze zum Download bereit.

Was ist nun aber die passende Darbietungsform für das Vektor-Modell der Plastik und welche Erkenntnisse lassen sich überhaupt an den 3D-Modellen gewinnen? Genau diese Frage habe ich von der Hinter- auf die Vorderbühne in den Unterricht getragen. Einige Schüler*innen hatten bereits im Vorjahr in einem Projektkurs Erfahrungen mit dem 3D-Design und auch praktische Expertise gesammelt. Wir sind gemeinsam in den schuleigenen Maker-Space (vgl. Luga 2019) gegangen, der u.a. mit einer VR-Brillen-Station, sechs 3D-Druckern, einem iPad-Koffer sowie etlichen Cardbord-Brillensets ausgestattet war. In einem Design-Thinking-Prozess (vgl. auch Förtsch/ Stöffler 2020, S. 13) wurden hier in Kleingruppen methodische Prototypen für die eigene Werkanalyse ersonnen. Dabei wurde schnell eine Problematik ersichtlich: Die in großer Anzahl verfügbaren Cardboard-Brillen hätten zwar einen niedrigschwelligen und breiten Zugang zu einer 3D-Ansicht des Modells etwa über Sketchfab ermöglicht, jedoch keine direkte Interaktion mit dem Modell. Den Schüler*innen war es aber wichtig, ihre Erkundungen am Werk direkt visualisieren und mit anderen teilbar machen zu können. In der gemeinsamen Präsentationsrunde bildeten sich drei Zugangsstationen aus:

  • Eine maßstabsgetreue Erkundung mit der VR-Brille, wobei die Datei in das Programm Google Tiltbrush geladen werden sollte, um Markierungen im Raum zu ermöglichen
  • Eine Integration in die kostenlose 3D-Präsentations-App Fusion360 auf dem IPad, bei dem zu unterschiedlichen Ansichten Kompositionsskizzen kollaborativ angefertigt werden können, die sich auch wechselseitig kommentieren lassen.
  • Eine Station mit mehreren miniaturisierten 3D-Drucken der Plastik, um insbesondere die Oberflächenstruktur in den Blick zu nehmen. Papier, Graphitstifte und Ton, ggf. zur Abformung sollten Möglichkeiten der „Notation“ bieten

Jede Gruppe baute nun für die Folgestunde jeweils eine Station. Dazu erhielten sie jeweils den Datensatz u. ggf. Accountdaten zu Tiltbrush u. Fusion360 von mir. Auch wenn einige Schüler*innen bereits Erfahrung mit dem 3D-Druck gesammelt hatten und eine druckfähige Datei mit einem Slicer erstellen konnten, unterstützte ich hier vor allem bei der Koordination der Druckprozesse. Da jeder Druck ca. 6 Stunden dauerte, übernahm ich selbst auch einige Drucke, die ich von daheim anstieß.

Da die VR-Station nur einmal existierte, musste ein alternierendes Verfahren erdacht werden, das keinen Leerlauf für einige Kursteilnehmer produzierte. Wir einigten uns darauf, dass der „Maker-Space“ in den nachfolgenden Kunstdoppelstunden neben dem offiziellen Werkraum immer als Lernraum solange offenstand, bis die 3 Stationen von allen Schüler*innen durchlaufen wurden. Parallel arbeiteten alle bildnerisch-praktisch an eigenen figürlichen Plastiken. 

Die Leitfragen für die mediengestützten Werkbegegnungen an den einzelnen Stationen waren dabei diese:

  • Welches Wirkungspotential geht von der Plastik aus, wie ändert sich dieses je nach Ansicht und Perspektive? 
  • Wie beeinflusst/ verändert das mediale Setting meinen Blick auf die Plastik? Welche Aspekte geraten dabei unterschiedlich stark in den Blick? 
  • Auf welche Weise kann ich dabei die dem Programm/ Medium eigenen Mittel nutzen, um meine Erkenntnisse zu dokumentieren/ in analytische Zeichnungen zu übersetzen?

Nachdem alle Schüler*innen alle Stationen durchlaufen hatten, fand ein Abschlussplenum statt, bei dem ich die Kursteilnehmer nun mit dem ursprünglich als Zugang verworfenen Lehrbuchtext konfrontierte, der mit einer seitengroßen Abbildung des „Schreitenden“ von Rodin aufwartete (s. Abb. oben). Dabei sollte ein Abgleich der Bild- und Textinformationen mit den eigenen Analysebefunden erfolgen. 

Abb.: Einzeichnung des Betrachterstandpunktes u. des Wirkungspotentials in Tilt Brush (links); Anfertigung u. Kommentierung analysierender Skizzen in Fusion360 (rechts)

Durch eine Einfärbung der Teilvolumina aus verschiedenen Ansichten in Fusion360 konnte das sich jeweils verändernde Dominanzverhältnis von Ober- und Unterkörper sichtbar dokumentiert werden, das das Umschreiten der Plastik zu einem dynamischen Rezeptionsakt macht. Das im flankierenden Erläuterungstext beschriebene „Modelé“, die Sichtbarmachung des Herstellungsprozesses durch Hinzufügen und Eindrücken von Tonklumpen, konnte von den Schüler*innen dabei vor allem durch den am 3D-Druck ausgemachten Kontrast der Oberflächenbeschaffenheit herausgearbeitet werden. Durch eine Frottage auf dünnem Papier wurden die glatten, vor allem konvexen Oberschenkelpartien mit den zerklüfteten, harten Graten vor allem an Oberkörper und Rücken abgetragen. Gegenüber dem im Text herausgehobenen Naturalismus der kräftigen Beine äußerten sich die Kursteilnehmer dagegen skeptisch, wurde doch gerade die überdimensionierte Oberschenkel- und Wadenmuskulatur in der VR-Begegnung als hyperrealistisch, idealisierend interpretiert.

Das Beispiel zeigt, das eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der Bild-Textkoppel des Lehrbuchs vor allem durch die multiperspektivischen medialen Zugänge angebahnt werden konnte, unterschiedliche Manifestationen ein und desselben Datensatzes. Die Entwicklung eines medienreflexiven Bewusstseins der Schüler*innen fußt dabei auf dem, was der Medienhistoriker Michael Giesecke als „Oszillationsfähigkeit, das probeweise Fokussieren mal des einen, mal des anderen Stils“ (Giesecke 2017, S. 500) bezeichnet. Das hier skizzierte Unterrichtsvorhaben ist dabei natürlich nicht voraussetzungslos und im konkreten Fall nur realisierbar durch die technischen Ressourcen und die Vorbildung der Schüler*innen im Umgang damit. Das Prinzip ist aber übertragbar.

Ich plädiere dabei dafür das mediale Probehandeln vom Planungstisch auf die Vorderbühne des Unterrichtsgeschehens zu holen und die Schüler*innen selbst immer wieder zahlreiche methodische Prototypen mit den ihnen erweiterten medialen Mitteln entwickeln zu lassen. Auf diese Weise lässt sich jenseits etablierter Nutzungsroutinen Kreativität als Basis von Unterscheidungsfähigkeit (und damit als Kritik im ursprünglichen Sinne ) kultivieren. Der hier dargestellte Ansatz führt dabei notwendig zu einer Verlangsamung des Unterrichtsprozesses und somit folgerichtig zu einem noch exemplarischeren fachlichen Lernen. Doch dieser Preis lohnt sich, wenn Schüler*innen dadurch mehr Regiekompetenzen im schulischen „Theater“ erhalten.

[1] Anmerkung: Hinterbühnen müssen nach Goffmann dabei nicht zwangsläufig dauerhafte physische Orte, sondern können auch temporär situative Settings sein. Allerdings verweisen sichtbar kontrollierte Hinterbühnen immer auch auf eine bestimmte soziale Hierarchie. Während für Lehrer*innen das „Lehrerzimmer“ eine mehr oder minder stark regulierte „Hinterbühne“ zum Unterricht darstellt, gibt es für Schüler*innen im Schulraum solche exklusiven Zonen systemisch selten, die komplett der Kontrolle bzw. Aufsicht von Lehrer*innen entzogen sind. Temporäre Zufluchten sind hier maximal die Toiletten.

Literatur: