Ein schlechtes politisches Märchen: Unterricht in der Pandemie

Ich fühle mich im falschen Film oder als Akteur in einer schlechten Geschichte – Immer wieder kommen mir solche Gedanken, wenn ich aktuell Verlautbarungen einiger Kultusminister*innen (egal welcher politischer Couleur) zum Unterrichtsbetrieb im Januar lese und höre. Dieses Unbehangen möchte ich hier zum Anlass nehmen, dieses „Narrativ“ vom Primat des Präsenzunterrrichts in der Pandemie, welches Fakten schafft und reale Konsequenzen zeitigt, einmal einer erzähltheoretischen Reflexion zu unterziehen.

Narrative sind Formen der Komplexitätsbewältigung, sie ordnen Welt und Handlungen in dieser, sie statten kollektives sowie individuelles Tun mit Sinn aus. Neben maximal komplexen vor allem literarischen Geschichten, die immer wieder die Kontingenz und verworrene Mehrsträngigkeit unseres Lebens sowie unserer Handlungsmotive und Konseqeuenzen abbilden, tendieren politische Narrative eher zu klar konturierten Minimalerzählungen, die gezielt mit Dichtotomien bzw. konstruierten Gegensätzen operieren. Weil in dieser von mir erwähnten Geschichte vor allem Räume (Schule und Wohnort als Lernräume) zentrale Ankerpunkte bilden, bietet sich zur theoretischen (Re-)Modellierung vor allem die Grenzüberschreitungstheorie des estnischen Literaturwissenschaftlers Jurji M. Lotman an, die hier von Michael Titzmann konzise anhand anschaulicher Fallbeipiele ausgebreitet und erweitert wird.

Nur ganz verkürzt basiert die Grenzüberschreitungstheorie auf der Annahme, dass jeder minimale Erzählstruktur ereignishafte Handlungen einzelner oder mehrerer Figuren umfasst, die ihren Ereignisrang dadurch erhalten, dass sie eigentlich unwahrscheinliche bzw. sanktionierte Tätigkeiten bzw. Grenzübertritte darstellen. Das Konzept der Grenze setzt jedoch die vorgängige Ordnung mindestens zweier unterschiedlicher „semantischer Räume“ voraus. Semantische Räume sind in der Regel physische Topografien (wie die Höhle, der Wald, das Schloss im Märchen), die ideologisiert bzw. semantisiert werden, indem sie zusätzlich mit nicht-räumlichen Merkmalen aufgeladen werden (z.B. die Höhle als Ort der Gefahr, der Magie, der unregulierten Triebhaftigkeit und/ oder der Ursprünglichkeit etc.). In der Geschichte der KMK markieren der „Präsenzunterricht“ (= Schule = sR1) und der „Distanzunterricht“ (= Zuhause =s R2) die beiden oppositionellen semantischen Räume. Beide werden wie in der Grafik gezeigt mit weiteren Ideologien aufgeladen. Dabei ist augenfällig, dass der Präsenzunterricht eigentlich als Teilraum des „ursprünglichen Normalbetriebs“ konzeptioniert ist, der lediglich durch spezifische Zusatzregeln (Händewaschen, Alltagsmaske, Lüften etc.) einen temporären Sonderstatus erhält. Im Regelfall halten sich alle Akteure in diesem Raum auf, der Übertritt in den semantischen Raum „Distanzunterricht“ wird durch die Schulaufsicht streng sanktioniert und nur im individuellen Quarantänefall oder im Kontext eines zeitlich begrenzten Lockdowns ermöglicht. Zugleich tendiert das narrative System zu einer möglichst zügigen Umkehrbarkeit dieses Zustands. Die Abwertung des Raumes „Distanzunterricht“ wird dabei aus kolportierten Erfahrungen aus dem ersten Lockdown (t 1-2) gespeist: Chaos, monatelange Funkstille zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen, bevor dann die segensreiche Idee des flächendeckenden Präsenzunterrichts (t 2) geboren wurde. Wie der Wald im Märchen ist der „Distanzunterricht“ insofern ein Gefahrenraum, der bei längerem Aufenthalt sozialpsychologische Probleme bei den dort Anwesenden erzeugt und der unkalkulierbar und somit (bildungs-)ungerecht ist [Im Märchen ist der Wald immerhin aber vor allem ein Ort der Initiation und notwendigen Selbstfindung. Diese Qualität wird dem „Lernen Zuhause“ eher abgesprochen].

Die eigentliche Gefahr geht jedoch von solch einem kruden Weltmodell aus, nach welchem der semantische Raum „Distanzunterricht“ nicht jedoch der „Präsenzunterricht“ prekarisiert wird. Hier wird der Küchentisch, den sich mehrere Kinder teilen müssen, mit dem zugigen, unterkühlten und engen Klassenraum aufgewogen. Für die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit sind persönliche Opfer zu bringen! Damit dieses Erklärungsmodell funktioniert, bedarf es einiger (virologisch nicht gedeckter) Zusatzannahmen, wie das Ausweisen der Schule als sicheren Ort, der innerhalb der Gesamtgesellschaft als Nicht-Infektionsherd sogar einen Sonderstatus beanspruchen kann.

Ebenso fatal erscheint zudem die „Dramatisierung“ bzw. Sanktionierung des Grenzübertritts in den „Distanzunterricht“ als Ausnahmefall. Wenn dieser vor allem als Notfallmaßnahme gedacht wird, können in diesem auch die Akteure keine Strukturen etablieren und didaktisch-methodische Expertise sammeln. Die narrativen Dichotomien widersprechen im Übrigen ganz und gar einigen Ländervorgaben. So basiert in NRW in der Handreichung zur lernförderlichen Verknüpfung von Präsenz- und Distanzunterricht die Verbindung auf dem Modell der didaktischen Schieberegler. Deren Pointe liegt ja eigentlich gerade darin, dass sie Unterricht und Lernen jenseits von Räumen denken bzw. diese wie in „Blended Learning“-Szenarien als gleichwertig ansehen. Der Wechsel vom Präsenz- zum Distanzunterricht und vice versa wäre dementsprechend ein reguläres „Geschehen“ und kein narratives „Ereignis“. Doch scheint das Herstellen einer solchen pädagogischen Normalität weitaus voraussetzungsvoller als die Konstruktion eines schlechten Märchens, das wohl leider in Varianten auch 2021 noch munter weitererzählt wird. Ein „Meta-Ereignis“, das die dichotome Ordnung dieser selbst zusammengezimmerten Wirklichkeit grundlegend ändert und in Frage stellt, ist nicht in Sicht. Aber vielleicht braucht es einfach mehr anschauliche Gegenerzählungen auf breiter Front – auch in 2021!!!