Ein schlechtes politisches Märchen: Unterricht in der Pandemie

Ich fühle mich im falschen Film oder als Akteur in einer schlechten Geschichte – Immer wieder kommen mir solche Gedanken, wenn ich aktuell Verlautbarungen einiger Kultusminister*innen (egal welcher politischer Couleur) zum Unterrichtsbetrieb im Januar lese und höre. Dieses Unbehangen möchte ich hier zum Anlass nehmen, dieses „Narrativ“ vom Primat des Präsenzunterrrichts in der Pandemie, welches Fakten schafft und reale Konsequenzen zeitigt, einmal einer erzähltheoretischen Reflexion zu unterziehen.

Narrative sind Formen der Komplexitätsbewältigung, sie ordnen Welt und Handlungen in dieser, sie statten kollektives sowie individuelles Tun mit Sinn aus. Neben maximal komplexen vor allem literarischen Geschichten, die immer wieder die Kontingenz und verworrene Mehrsträngigkeit unseres Lebens sowie unserer Handlungsmotive und Konseqeuenzen abbilden, tendieren politische Narrative eher zu klar konturierten Minimalerzählungen, die gezielt mit Dichtotomien bzw. konstruierten Gegensätzen operieren. Weil in dieser von mir erwähnten Geschichte vor allem Räume (Schule und Wohnort als Lernräume) zentrale Ankerpunkte bilden, bietet sich zur theoretischen (Re-)Modellierung vor allem die Grenzüberschreitungstheorie des estnischen Literaturwissenschaftlers Jurji M. Lotman an, die hier von Michael Titzmann konzise anhand anschaulicher Fallbeipiele ausgebreitet und erweitert wird.

Nur ganz verkürzt basiert die Grenzüberschreitungstheorie auf der Annahme, dass jeder minimale Erzählstruktur ereignishafte Handlungen einzelner oder mehrerer Figuren umfasst, die ihren Ereignisrang dadurch erhalten, dass sie eigentlich unwahrscheinliche bzw. sanktionierte Tätigkeiten bzw. Grenzübertritte darstellen. Das Konzept der Grenze setzt jedoch die vorgängige Ordnung mindestens zweier unterschiedlicher „semantischer Räume“ voraus. Semantische Räume sind in der Regel physische Topografien (wie die Höhle, der Wald, das Schloss im Märchen), die ideologisiert bzw. semantisiert werden, indem sie zusätzlich mit nicht-räumlichen Merkmalen aufgeladen werden (z.B. die Höhle als Ort der Gefahr, der Magie, der unregulierten Triebhaftigkeit und/ oder der Ursprünglichkeit etc.). In der Geschichte der KMK markieren der „Präsenzunterricht“ (= Schule = sR1) und der „Distanzunterricht“ (= Zuhause =s R2) die beiden oppositionellen semantischen Räume. Beide werden wie in der Grafik gezeigt mit weiteren Ideologien aufgeladen. Dabei ist augenfällig, dass der Präsenzunterricht eigentlich als Teilraum des „ursprünglichen Normalbetriebs“ konzeptioniert ist, der lediglich durch spezifische Zusatzregeln (Händewaschen, Alltagsmaske, Lüften etc.) einen temporären Sonderstatus erhält. Im Regelfall halten sich alle Akteure in diesem Raum auf, der Übertritt in den semantischen Raum „Distanzunterricht“ wird durch die Schulaufsicht streng sanktioniert und nur im individuellen Quarantänefall oder im Kontext eines zeitlich begrenzten Lockdowns ermöglicht. Zugleich tendiert das narrative System zu einer möglichst zügigen Umkehrbarkeit dieses Zustands. Die Abwertung des Raumes „Distanzunterricht“ wird dabei aus kolportierten Erfahrungen aus dem ersten Lockdown (t 1-2) gespeist: Chaos, monatelange Funkstille zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen, bevor dann die segensreiche Idee des flächendeckenden Präsenzunterrichts (t 2) geboren wurde. Wie der Wald im Märchen ist der „Distanzunterricht“ insofern ein Gefahrenraum, der bei längerem Aufenthalt sozialpsychologische Probleme bei den dort Anwesenden erzeugt und der unkalkulierbar und somit (bildungs-)ungerecht ist [Im Märchen ist der Wald immerhin aber vor allem ein Ort der Initiation und notwendigen Selbstfindung. Diese Qualität wird dem „Lernen Zuhause“ eher abgesprochen].

Die eigentliche Gefahr geht jedoch von solch einem kruden Weltmodell aus, nach welchem der semantische Raum „Distanzunterricht“ nicht jedoch der „Präsenzunterricht“ prekarisiert wird. Hier wird der Küchentisch, den sich mehrere Kinder teilen müssen, mit dem zugigen, unterkühlten und engen Klassenraum aufgewogen. Für die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit sind persönliche Opfer zu bringen! Damit dieses Erklärungsmodell funktioniert, bedarf es einiger (virologisch nicht gedeckter) Zusatzannahmen, wie das Ausweisen der Schule als sicheren Ort, der innerhalb der Gesamtgesellschaft als Nicht-Infektionsherd sogar einen Sonderstatus beanspruchen kann.

Ebenso fatal erscheint zudem die „Dramatisierung“ bzw. Sanktionierung des Grenzübertritts in den „Distanzunterricht“ als Ausnahmefall. Wenn dieser vor allem als Notfallmaßnahme gedacht wird, können in diesem auch die Akteure keine Strukturen etablieren und didaktisch-methodische Expertise sammeln. Die narrativen Dichotomien widersprechen im Übrigen ganz und gar einigen Ländervorgaben. So basiert in NRW in der Handreichung zur lernförderlichen Verknüpfung von Präsenz- und Distanzunterricht die Verbindung auf dem Modell der didaktischen Schieberegler. Deren Pointe liegt ja eigentlich gerade darin, dass sie Unterricht und Lernen jenseits von Räumen denken bzw. diese wie in „Blended Learning“-Szenarien als gleichwertig ansehen. Der Wechsel vom Präsenz- zum Distanzunterricht und vice versa wäre dementsprechend ein reguläres „Geschehen“ und kein narratives „Ereignis“. Doch scheint das Herstellen einer solchen pädagogischen Normalität weitaus voraussetzungsvoller als die Konstruktion eines schlechten Märchens, das wohl leider in Varianten auch 2021 noch munter weitererzählt wird. Ein „Meta-Ereignis“, das die dichotome Ordnung dieser selbst zusammengezimmerten Wirklichkeit grundlegend ändert und in Frage stellt, ist nicht in Sicht. Aber vielleicht braucht es einfach mehr anschauliche Gegenerzählungen auf breiter Front – auch in 2021!!!

Sicheres Lernen

Altersdifferenzierte Präsenz- und Betreuungsszenarien in der Pandemie – Eine Konzeptskizze für allgemeinbildende Schulen der Sekundarstufe I und II

Vorwort

Um den Fortbestand des Unterrichts und die Gesundheit aller Menschen in der Schulgemeinde sicherzustellen (wie es u.a. Lambert Austermann in seinem offenen Brief hier fordert), haben wir, Patricia Drewes, Lars Zumbansen und David Tepaße, im November 2020 eine Konzeptskizze für weiterführende Schulen entwickelt. Diese möchten wir hier teilen und zur Diskussion stellen.

Vorüberlegungen

  • An den Schulen ist es nicht mehr möglich, Präsenzunterricht als Regelbetrieb in vollem Stundenumfang durchzuführen, beispielsweise, weil viele Kolleg*innen und/oder Schüler*innen erkrankt oder in Quarantäne sind oder die Inzidenz lokal sehr hoch ist.
  • Die Schulen insbesondere im gebundenen Ganztag haben aber u.a. den Auftrag, die Schüler*innen auch zu betreuen, insbesondere in der Erprobungsstufe. 
  • Die bisherige Form des Distanzunterrichts, das heißt die Betreuung von  Lerngruppen jenseits des regulären Stundenplans, kann in diesem Setting nicht praktiziert werden, da sie neben dem Präsenzunterricht (auch wenn er einschränkt ist) zu einer Doppelbelastung der Lehrer*innen führen würde. 
  • Die Präsenzstundenpläne können im eingeschränkten Regelbetrieb zum einen aus pädagogischen Gründen, zum anderen wegen fehlender technischer Ausstattung nicht 1:1 in einen synchronen Distanzunterricht  überführt werden.
  • Daher brauchen die Schulen ein Modell eines eingeschränkten Regelbetriebs, der es erlaubt 
    • (1) zu differenzieren: die jüngsten Schüler*innen sollen (auch laut Empfehlung des RKI und laut NRW-Schulmail vom 21.10.2020) möglichst durchgängig in der Schule betreut werden, bei den älteren Schüler*innen kann man mit Modellen aus Präsenz und Distanz arbeiten.
    • (2) zu flexibilisieren: jede Schule sollte nach Maßgabe der eigenen Voraussetzungen (technisch, personell und infrastrukturell) entscheiden, welche Jahrgangsstufen in welchem genauen Turnus in der Schule sind.
    • (3) Personal in Präsenz vor Ort flexibel einzuteilen: um die Study Hall mit ausreichend Personal zu besetzen (und damit einer Benachteiligung bestimmter Schüler*innen vorzubeugen), soll an anderer Stelle Personal eingespart werden.
    • (4) durch die ständige Anwesenheit der Erprobungsstufe wird an der Schule auch keine zusätzliche Notbetreuung mehr benötigt.

Konzept geteilter Lerngruppen in Präsenz vs. Hybridkonzept

Das hier vorgeschlagene Konzept unterscheidet sich von dem in einigen Bundesländern (z.B. Niedersachsen) bereits praktizierten Hybridmodellen. Diese sehen z.B. eine pauschale Halbierung der Lerngruppen vor, wobei immer ein Teil in Präsenz, der andere in Distanz unterrichtet wird. Organisatorisch scheint dieses Modell ohne weiteren zusätzlichen Aufwand für jede Schule adaptierbar, allerdings weist es einige Schwächen auf:

  • Ein durchgehender Betreuungsanspruch insbesondere für die Erprobungsstufe lässt sich mit einem Hybridmodell nicht realisieren, da auch in den Klassen 5 und 6 immer die Hälfte der Schülerschaft systemisch fehlt. Gerade für jüngere Schülerinnen und Schüler erscheint zudem eine durchgehende tägliche Rhythmisierung und Strukturierung des Schulalltages unerlässlich. (Siehe Punkt 1 oben). Weiterhin ist an gebundenen Ganztagsschulen die Möglichkeit einer durchgehenden Mittagsverpflegung für die Schüler*innen der Erprobungsstufe gegeben.
  • Hybridmodelle führen – im Falle nicht konzeptionell entwickelter Varianten, die erprobte Blended-Learning-Konzepte zu Grunde legen – zu einer systemischen Doppelbelastung der Lehrer*innen, die immer synchron im Präsenzunterricht gebunden sind und parallel dazu ihre Lerngruppe auf Distanz betreuen müssen. Dies erfordert eine “doppelte Unterrichtsplanung” und führt eventuell zu einem Auseinanderentwickeln der Lernstände der geteilten Lerngruppen.
  • Mit Hybridmodellen ist deutlich schwieriger zu flexibilisieren (unter 1. schon in der Erprobungsstufe zu sehen). Hier sind insbesondere die infrastrukturellen Voraussetzungen (z.B. haben einige Schulen bestimmte Jahrgangsstufen 1:1 mit digitalen Endgeräten ausgestattet, anderen fehlen Ausstattung und WLAN) und die personellen Gegebenheiten der jeweiligen Schule nur schwer mit in die Planung einzubeziehen.

Beispiel-Präsenzpläne für 4 Wochen

Das Konzept der “geteilten Lerngruppen in Präsenz” halbiert wie Hybridmodelle die Schülerschaft, allerdings hier unterteilt nach Jahrgängen, d.h., bei einer Schule mit acht Jahrgangsstufen sind immer vier Jahrgänge in Präsenz sowie vier in Distanz. Dieses vorgeschlagene Beispiel sorgt für einen durchgehenden Präsenzunterricht der Erprobungsstufe. Die übrigen Jahrgangsstufen kommen in einem rollierenden System, wobei auch hier schulformspezifisch und mit Blick auf die Raum- und Personalsituation weitere Jahrgangsstufen priorisiert werden können. Für eine Sekundarschule und Gesamtschule wäre dies etwa noch die Jahrgangsstufe 10 als Abschlussjahrgang. In einem 4-Wochenplan etwa würden im Gymnasium Harsewinkel etwa der Abschlussjahrgang Q2 2x in Präsenz und 2x in Distanz erscheinen, die Jahrgangsstufe 9 hingegen nur 1x in Präsenz und 3x in Distanz. Hintergrund ist der Umstand, dass die Jahrgangsstufe 9 in Harsewinkel seit 2 Jahren mit digitalen Endgeräten ausgestattet und das asynchrone, selbstverantwortliche Arbeiten gewöhnt ist. Nach einem ähnlichen Prinzip der rollierenden  Anwesenheit verschiedener Jahrgänge wurden z.B. auch am Gymnasium Bethel jeweils ganze Jahrgänge in geteilten Lerngruppen mit durchgängiger Fachlehrerpräsenz in allen Lerngruppen beschult, was dadurch möglich wurde, dass das zeitliche Grundmuster von 45 bzw. 90 Minuten aufgebrochen und durch Kurzstunden von 35 bzw. 70 Minuten ersetzt wurde. Wir zeigen diese Beispiele an dieser Stelle auf, um deutlich zu machen, dass verschiedene Schulen je nach personeller und technischer Ausstattung verschiedene Lösungen finden können und sollten.

Andere Schulen können, abhängig von den strukturellen Voraussetzungen, andere Lösungen entwickeln und ihre Modelle gern in der Kommentarfunktion vorstellen. 

Gymnasium (G8)

W. 1 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9) Jgst. 6 ( ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der EF) Jgst. Q2 Study-Hall/ Study Rooms
W. 2 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q2) Jgst. 6  (ggf. (zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9 ) Jgst. 8 Jgst. Q1 Study-Hall/ Study Rooms
W. 3 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q1) Jgst. 9 Jgst. EF Study-Hall/ Study Rooms
W. 4 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. EF) Jgst. Q2 Study-Hall/ Study Rooms
und so weiter          

Gesamtschulen (G9)

W. 1 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 10 Jgst. Q2 Study-Hall / Study Rooms
W. 2 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q2) Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9 ) Jgst. 8 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. EF) Jgst. Q1 Study-Hall / zusätzlich vor allem für die 6er: klassenbezogene SR
W. 3 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 6 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. Q1) Jgst. 9 Jgst. EF Study-Hall / Study Rooms
W. 4 Jgst. 5 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 9)

Jgst. 7 (ggf. zusätzlich betreut durch L der Jgst. 8) Jgst. 10 Jgst. Q2 Study-Hall / zusätzlich vor allem für die 6er: klassenbezogene SR
und so weiter          

Unterstützende Betreuungs- und Fördermaßnahmen in Präsenz

Generell wird während der Phase des eingeschränkten Regelbetriebs der Study Hall und den Study Rooms als schulisch betreuten präsentischen Lernorten eine zentrale Bedeutung zukommen. Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufe können dabei die vorhandenen strukturellen und personellen Ressourcen vor Ort in Anspruch nehmen. Das kann unter Umständen auch heißen, dass am schulischen Arbeitsplatz ein Handapparat mit Büchern und analogen Lernhilfen eingerichtet wird. Konkret sind dazu z.B. auch die Lehrerinnen und Lehrer in den Aufsichten eingeplant, die die Schüler*innen kennen und die sich daher in besonderer Weise als vertraute Ansprechpartner*innen qualifizieren. 

Über ein Buchungssystem sind die Plätze und ggf. besondere Förder- und Betreuungsbedarfe in der Study Hall zu erfassen. Dabei können bei Bedarf auch weitere digitale Endgeräte der Schule in Anspruch genommen werden. Zudem können die Klassenleitungen im Falle besonderer Förderbedarfe oder bei Schwierigkeiten der Selbstregulation Schüler*innen verpflichtend in die Study Hall einbestellen (selektive Präsenzen).

Für die Oberstufe besteht die Möglichkeit, sich für eine bestimmte Zeit in (kleine) Räume vor Ort, sogenannte  “Study Rooms”, einzubuchen und diese für Phasen insbesondere der fachlichen Kooperation und Kollaboration zu nutzen. 

Didaktische Grundannahmen für das Arbeiten der Schülerinnen und Schüler zu Hause

Das hier ausgearbeitete Modell gewährleistet in den einzelnen Lerngruppen ein grundsätzlich gleichschrittiges Vorgehen. So alternieren für alle Schülerinnen und Schüler Phasen des synchronen Lernens im geteilten Klassenverband in Präsenz und Phasen des asynchronen, selbstverantwortlichen Lernens in Distanz. Die Rhythmisierung ist zwar individuell angepasst, folgt dabei aber konsequent einem Blended-Learning-Konzept. Dies bedeutet, dass im Idealfall Input- und Erarbeitungsphasen in Distanz stattfinden und von den Schülerinnen und Schülern mit Scaffolding der Lehrkräfte selbstständig absolviert werden. Die Präsenzphasen dienen sodann der plenaren Diskussion, Vertiefung und Anwendung des Gelernten. Nichtsdestotrotz ermöglicht dieses Modell auch in den Phasen des Distanzunterrichts eine stärkere lehrseitige Unterstützung, da durch die Absenz von je vier Jahrgängen mehr personelle Ressourcen freigesetzt werden als für die Betreuung der “verdoppelten Jahrgänge” vor Ort benötigt werden (s. Tabelle oben). 

Im Einzelfall bedeutet dies, dass im Sinne der Bildungsgerechtigkeit und gesellschaftsstabilisierenden Funktion, die Schule zugeschrieben wird, genügend Personal bereit steht für eine zusätzliche Unterstützung in der Study Hall. Ggf. ist es bei entsprechenden Raumkapazitäten auch möglich, jahrgangsbezogene Study Halls (etwa in der Aula, dem Selbstlernzentrum, großen Konferenzräumen etc.) einzurichten und von Lehrer*innen betreuen zu lassen, die die Schüler*innen aktuell selbst unterrichten. Weiterhin sind so durch das jeweils freigesetzte Personal flankierende Videokonferenzen für die Schülerinnen und Schüler in Distanz realisierbar. Auf der Grundlage zahlreicher Evaluationen mit Schülern und Eltern hat sich herausgestellt, dass eine zentrale Funktion der Videokonferenzen weniger die synchrone Wissensvermittlung darstellt, sondern diese vor allem der Strukturierung des Lerntages und Beziehungspflege (etwa durch morgendlich ritualisierte Startveranstaltungen) dienen sowie zur 1:1-Beratung im Kontext von Sprechzeiten genutzt werden können.

Organisatorische Bedingungen

Bei der Erstellung der neuen Raumpläne für altersdifferenzierte Präsenz ist vor allem darauf zu achten, dass die geteilten Lerngruppen nebeneinander liegen und im Idealfall die Jahrgangsstufen auch in einem Gebäude untergebracht sind. Damit sind die “Laufwege” für die betreuenden Lehrer*innen kurz und die Durchmischung mit anderen Stufen während der Pausen wird unterbunden.

  • bei der Betreuung sollten feste Lehrer*innen-“Klassenbuddies” im Idealfall unter Nutzung des bisherigen Stundenplaneinsatzes geschaffen werden, z.B. Lehrer*innen, die die 9a am Montag unterrichtet hätten, betreuen an diesem Tag die 5a in ihrem Fach)
  • Neben dem Stundenplan für den Präsenzunterricht sollten insbesondere denjenigen Klassen und Jahrgängen, die nicht durchgängig in Präsenz in der Schule sind, Wochenpläne oder Padlets zur Verfügung gestellt werden, die Aufgaben und Projekte für die  einzelnen Fächer transparent abbilden. 
  • Die Fachlehrer*innen einer Klasse sollten sich vor allem ab Klasse 7 wöchentlich im Klassenteam über die Aufgaben und Projekte der Klassen abstimmen, damit eine sinnvolle Mischung aus unterschiedlichen Herausforderungen für die Schüler*innen entsteht und sich auch asynchrone Formen der Leistungsüberprüfung nicht ballen. 
  • Eltern und v.a. Schüler*innen ab Klasse 7 werden regelmäßig zu ihrer Arbeitsbelastung im Distanzunterricht gefragt; in Rücksprache mit den Elternvertreter*innen sollten danach ggf. zügig Anpassungen vorgenommen werden. Dazu sollten in zweiwöchigem Rhythmus Abstimmungstermine mit den Elternpflegschaftsvorsitzenden vorgenommen werden. 
  • Für die Oberstufe (insbesondere die EF) sollte mit Blick auf den Distanzunterricht ein Tutor*innensystem etabliert werden, bei dem 4-5 Schüler*innen eine*n Tutor*in haben, der sie mit Blick auf Arbeitsbelastung, soziale Situation u.ä. berät. In der Q1 / Q2 kann diese Aufgabe auch von den Leistungskurslehrer*innen wahrgenommen werden. 
  • Alle Lehrer*innen sollten ein Logbuch führen, aus dem insbesondere mit Blick auf den Distanzunterricht ersichtlich ist, welche curricularen Schwerpunkte gesetzt wurden. 
  • Dadurch, dass die Erprobungsstufe immer in der Schule ist und die Klassen getrennt werden, muss eine Jahrgangsstufe in andere Räumlichkeiten ausweichen. Daher muss ein konsistenter Raumplan erstellt werden.
  • Für eine Teilung der Lerngruppen ist insbesondere mit Blick auf den Sportunterricht (oftmals beschränkte Hallen-/Raumkapazitäten) eine Absprache der Kolleg*innen erforderlich, sport-affine Beschäftigungen mit Abstand zu ermöglichen.

Konkretisierende Modellbeispiele

Abschließend möchten wir dieses Konzept anhand einer typischen Schulwoche prototypisch vorstellen: 

Max, 5. Schuljahr: Max befindet sich in der Erprobungsstufe einer weiterführenden Schule. Für ihn ändert sich durch den eingeschränkten Regelbetrieb fast nichts. Sein Unterricht findet vollumfänglich in der Schule statt – mit einem Unterschied: Max‘ Klasse, in der 30 Schüler*innen lernen, ist auf zwei Räume verteilt und wird im Regelfall von zwei Lehrer*innen betreut, die eng zusammenarbeiten. Max kann jeden Tag in der Schulmensa essen, auf dem Schulhof seine Freund*innen treffen und in kleinen Lerngruppen in Ruhe lernen. Wenn er Fragen hat, kann ihm innerhalb dieser kleinen Gruppe von Mitschüler*innen und der betreuenden Lehrkraft schnell geholfen werden. Max‘ Eltern sind sehr zufrieden mit dieser Lösung, weil sie es ermöglicht, dass Max durchgängig in der Schule betreut wird.

Elif, 8. Schuljahr: Elif lernt in dieser Woche nicht in der Schule, sondern am heimischen Schreibtisch. Die Lehrer*innen ihrer Klasse haben ihr dazu am Montagmorgen den Link zu einem Padlet geschickt, in dem festgehalten ist, in welchem Fach sie in dieser Woche synchron und asynchron arbeitet. So finden sich in diesem Padlet Arbeitsaufträge, fest terminierte Videokonferenzen in verschiedenen Fächern, Hinweise zu Erledigungsfristen und zu erstellenden Produkten. Elif weiß, dass sie ihre Lehrer*innen zu deren Dienstzeiten jederzeit anschreiben darf und ebenso wie im Präsenzunterricht eine Antwort erhält, wenn sie eine Frage hat. Besonders gut findet sie es, dass ihre Lehrer*innen bei der Unterrichtsplanung berücksichtigen, dass Kooperation und Kommunikation bei der Aufgabenerledigung wichtig sind. So gibt es immer wieder Phasen, in denen Elif sich mit ihren Mitschüler*innen per Telefon oder Videokonferenz zusammenschaltet, Aufgaben bespricht und Peer Feedback erhält. Elif lernt gern in Ruhe zu Hause. Elifs Freundin Hannah hingegen kann sich zu Hause eher schwer motivieren und hatte bei der Schulschließung im Frühling und Frühsommer große Probleme, ihre Aufgaben innerhalb bestimmter Fristen zu erledigen. Darum hat sie sich jetzt einen Platz in der Study Hall ihrer Schule  gebucht. Dort hat sie sich in einem großen Klassenraum einen Arbeitsplatz mit Schulbüchern, Heften und Übungsmaterial eingerichtet. Besonders gut findet sie es, dass dort über die Woche verteilt Lehrer*innen verschiedener Fächer sitzen und ihr mit mehr Ruhe als im Fachunterricht helfen können.

Dana, Q2: Dana ist in dieser Woche in der Schule. In kleinen Kursen (wie Religion) findet der Unterricht in der gesamten Gruppe statt, größere Gruppen (wie  ihr Biologie-LK) werden geteilt. Dadurch, dass die Räume für die geteilten Kurse nebeneinander liegen und die Lehrer*innen den Unterricht mithilfe eines digitalen Rückgrats seit Beginn der ersten Schulschließung so gestalten, dass alle auf dieselben digitalen Ressourcen (Kursheft, Whiteboard, Pinnwand) zurückgreifen können, ist es für Dana in Arbeitsphasen zweitrangig, ob sie neben Tim sitzt oder Tim im Nebenraum ihre Arbeitsprodukte digital kommentiert. Danas Freundin Julie besucht eine andere Schule, die, wie viele andere, noch auf WLAN und Arbeitsgeräte für Schüler*innen wartet. Auch dort funktioniert das Zwei-Raum-Prinzip; zwar fehlt die digitale Infrastruktur, dafür hat die Schule dort das Prinzip des „Lernens durch Lehren“ installiert: Phasenweise übernehmen dort Schüler*innen in enger Absprache mit den Lehrkräften kleinere Phasen des Unterrichts. Ergänzend dazu arbeiten die Lehrer*innen beider Schulen nach dem Flipped-Classroom-Prinzip: Sie nehmen eine Vorentlastung des Unterrichts durch Verlagerung von Input- und Instruktionsphasen in den häuslichen Bereich vor und nutzen die Unterrichtszeit für die Klärung von Fragen, Übungsphasen und Diskussionen. Manchmal liest Dana in der Zeitung, ihre Generation sei ein „Corona-Opfer“. Dana mag nicht so recht daran glauben. Zwar ist ihr Unterricht anders als vor einem Jahr, aber das ist für sie nicht schlecht: Sie merkt, dass ihre Lehrer*innen intensiv weiterlernen und alles dafür tun, dass sie gut auf ihre Prüfungen vorbereitet ist. Ihre Beziehung zu den Lehrer*innen ist durch die individuelle Betreuung wesentlich intensiver geworden. Dana arbeitet fast nur noch digital, mag dabei vor allem die kollaborativen Elemente – und vor allem hat sie mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernommen.

Matthias Meier: Herr Meier unterrichtet Deutsch und Biologie in den Sekundarstufen I und II. Er ist Klassenlehrer einer 8. Klasse, die auch Elif besucht; außerdem unterrichtet er Biologie im LK, den Dana gewählt hat. Weil die 8. Klasse in dieser Woche nicht vor Ort ist, hat er sich für seine Fächer Aufgabenstellungen überlegt, die seine Schüler*innen zu Hause erledigen können. In Biologie soll ein digitales Herbarium angelegt werden. Dazu müssen die Schüler*innen den Schreibtisch verlassen und Wald und Wiesen aufsuchen, sammeln, trocknen, fotografieren und digital dokumentieren.

Im Deutschunterricht arbeiten die Schüler*innen an einem Portfolio zur Einübung eines erweiterten Textsortenspektrums. Ihre Aufgabe ist es in dieser Woche, einen argumentierenden Text in einem Etherpad zu verfassen und sich digital Peer Feedback einzuholen. Im Plenum werden in der nächsten Woche die überarbeiteten Fassungen vorgestellt und offene Fragen geklärt.

In der Q2 findet sein Biologieunterricht in dieser Woche in physischer Präsenz statt. Weil Biologie ein beliebtes LK-Fach ist, werden die 20 Schüler*innen auf zwei Räume verteilt. Herr Meier wechselt regelmäßig zwischen diesen beiden Räumen, in denen die Schüler*innen in digitalen Gruppen auf der Basis eines gemeinsamen Padlets arbeiten. Weil Dana in Biologie sehr fit ist, hat sie Herrn Meier vorgeschlagen, dass sie in ihrer Teilgruppe in Absprache mit Herrn Meier kleinere Moderationsphasen übernimmt, deren Ergebnisse Herr Meier wiederum sichtet.

Während die Achtklässler zu Hause oder in der Study Hall arbeiten, begleitet Herr Meier seine Kollegin Frau Kaminski im Deutsch- und Biologieunterricht der Erprobungsstufe. Die beiden sprechen sich wöchentlich 1x ab, damit Herr Meier auch in den Teillerngruppen entsprechend Hilfestellung leisten und auf Schüler*innen mit Lernproblemen eingehen kann.

Die Schule, in der Herr Meier arbeitet, hat zu Beginn des neuen Schuljahrs eine Bedarfsabfrage gemacht, bei der sich herausstellte, dass viele Schüler*innen digitale Endgeräte nutzen konnten; die übrigen werden, bis die Geräte aus dem Soforthilfeprogramm eintreffen, mit Leihgeräten der Schule bzw. durch Gerätespenden ausgestattet, die der Förderverein unterstützt. Diese digitale Basisausstattung, verbunden mit der Study Hall, stimmt Herrn Meier zuversichtlich, dass seine Schule neben der kognitiven weiterhin auch ihre soziale und kommunikative Funktion in der Pandemie erfüllen kann, auch wenn nicht alle Menschen an jedem Tag am selben Ort lernen. 

Autor*innen: Patricia Drewes, David Tepaße, Lars Zumbansen